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Reisebericht: Buenos Aires nach der Pandemie - Teil 2

„Buenos Aires nunca cambia“? – Erste Eindrücke von den Milongas der Stadt: Eine Nacht im Salon Canning



Eine Nacht im Salon Canning in Buenos Aires
Milonga im Salon Canning, Buenos Aires

Wie würde es sich anfühlen, endlich wieder in den Milongas von Buenos Aires zu tanzen, die doch fast eineinhalb Jahre geschlossen waren oder sogar für immer schließen mussten, weil die Veranstaltungsorte verkauft wurden (z.B. das ‚Obelisco Tango‘ oder die ‚Aurora Tangobar‘)? Meine Eindrücke aus der ersten Woche sind durchwachsen, und ich höre von Freundinnen und Freunden, die hier leben, dass sich viel verändert hat. Oder täuscht das nur und hat der Tänzer recht, der mir am Sonntag auf der Plaza Dorrego in San Telmo (bei der berühmten open-air-Milonga von „El Indio“) in anderem Zusammenhang erklärte: „Buenos Aires ändert sich nie“ (BA nunca cambia) – ein vieldeutiges Statement, das gleichermaßen Hoffnung wie auch Resignation zum Ausdruck bringen kann.


Was mir auffällt in dieser ersten Woche: Viele (einheimische) Tangotänzer*innen hat die Pandemie wieder in den Schoß der Familie, der Ehe oder der festen Partnerschaft zurück geführt; manche Tänzer, die man früher fast an jedem Abend in einer anderen Milonga traf, kümmern sich plötzlich nur noch um die (erwachsenen) Kinder oder die Enkelkinder, renovieren ihre Heime oder die ihrer Kinder, ziehen mit ihren Partnerinnen auf das Land, bleiben also den Milongas weitgehend fern – und diese Energie der frei flottierenden Großstadt-Singles (oft „singles again“ nach der Familienphase) fehlt dann in den Milongas...


Die meisten Milongas, die ich in dieser ersten Woche besuche, sind tatsächlich leerer als früher und auch weniger erfüllt mit dieser prickelnden Energie, die ich hier so mag. Aber dann gehe ich gestern Nacht in den Salon Canning, genauer gesagt, in die legendäre Milonga „Paracultural“ von Omar Viola, und erlebe einige Überraschungen. Das Paracultural fand viele Jahre lang dreimal in der Woche statt, am Montag, Dienstag und Freitag (inzwischen nur noch am Dienstag und Freitag), immer erst ab 22.30 Uhr, aber dafür bis 4 Uhr morgens oder manchmal noch länger, und es gab immer eine Tanzvorführung und / oder ein Life- Orchester, alles im Eintrittspreis (von aktuell 500 Pesos, also gut 2 Euro) inbegriffen. Der Ort des Geschehens, der Salon Canning (an dem ja auch viele andere Milongas stattfinden), ist einer der schönsten Tanzsäle von Buenos Aires im Stadtteil Palermo, und seit der Renovierung vor einigen Jahren hat er einen ganz ausgezeichneten Parkettboden zum Tanzen: Um die relativ große quadratische Tanzfläche sind in zwei Reihen rotgedeckte Tische gestellt, und zwischen den beiden Tischreihen können sich die Tänzer bewegen und – nach alter Schule – durch einen cabeceo die nächsten Tänzerinnen rekrutieren. Für meine Begriffe eine ziemlich ideale Raumsituation für eine Milonga.


Aber viele BA-Reisende werden auch wissen, dass die Milonga Paracultural ein schwieriges Pflaster ist, wo es auch guten und super herausgeputzten Tänzerinnen passieren kann, dass sie den ganzen Abend keine oder kaum eine Aufforderung zum Tanzen erhalten. Frau kann dort also auch extrem frustrierende Nächte verbringen, und weil mir das einige Male in der Vergangenheit passiert ist, bin ich eine Zeitlang gar nicht mehr ins Canning gegangen.


Aber: Die Milonga Paracultural „is the place to be”, denn hier tummelt sich die ‚crème de la crème‘ der Tango-Prominenz, und also auch diejenigen, die sich dafür halten oder ein Teil davon sein wollen. Hier haben viele Karrieren von berühmten Tanzpaaren und Tango- Orchestern begonnen, und hier konnte man – meist ab 1 Uhr morgens – die berühmtesten Tango-Orchester (wie Color Tango, Sexteto Milonguero, La Juan D’Arienzo, La Romantica Milonguera etc.) gratis und life und aus der Nähe hören und die Weltmeister-Paare tanzen sehen... Die großen Promis der Szene erhalten hier übrigens gratis Eintritt und werden jedesmal vom Veranstalter (Omar Viola) in seinen Ansagen namentlich geehrt, wenn er die Orchester und Tanzpaare ankündigt, dann wird applaudiert und die so Geehrten erheben sich kurz von ihren Stühlen und verneigen sich geschmeichelt ... (und zu diesem Ritual gehört auch die berühmte Formel von Omars Abmoderation nach der performance: „que sigue la milonga!“).


So also war es früher; etliche Jahre war der Salon Canning meine Lieblingsmilonga, dann wurde sie immer mehr von Tourist*innen überschwemmt und viele porteños blieben fern – wie würde es diesmal sein, nach der Pandemie?

Die Überraschung beginnt an der Kasse draußen auf dem langen Flur, als ich – gut gelaunt – um Mitternacht aus einer anderen Milonga kommend eintreffe: Ob ich eine Reservierung hätte? Nein (denn ich hatte angenommen, dass es in diesen Zeiten eher nicht voll sein würde: Weit gefehlt!). Man erklärt mir, dass alle Tische belegt seien und der Raum also voll. Ob ich Freunde hätte, die in der Milonga seien und an deren Tisch ich vielleicht noch einen Platz fände? Claro, sage ich (irgendjemanden werde ich schon kennen, denke ich mir ...). Man lässt mich ein (nach Kontrolle meines Impfausweises) – die erste Hürde ist geschafft! Dann also erstmal ab in die Damentoilette und die high heels angezogen... Ich bin diesmal ohne Erwartungen gekommen, nicht speziell ‚aufgedresst‘ (wie es hier üblich ist), einfach aus Neugierde. Nun brauche ich also erstmal einen Platz, laufe zwischen den Tischen umher und schaue mich um. An der Bar ein kleiner Tisch mit drei alten Herren, echten Tango-Berühmtheiten, die ich alle vom Gesicht oder Namen her kenne (‚El Chino‘, Toto, Tonio ...), dort ist ein Platz frei, ich strahle die Herren an, sie laden mich freundlich an ihren Tisch ein, ich nehme dankbar an und zeige mich erkenntlich, indem ich eine Flasche Sekt für unseren Tisch bestelle. (Der gute „Chandon“ kostet hier umgerechnet fast 10 Euro, und das können sich die meisten hiesigen Tänzer nicht leisten, wie mir auch ‚El Chino‘ ganz offen erklärt: estamos pobre, wir sind arm. Immerhin: Sie akzeptieren die Einladung einer Frau, wohl wissend, dass es uns als Touristinnen ökonomisch viel besser geht als ihnen; früher wäre das vermutlich undenkbar gewesen.)



Christine Garbe berichtet von ihrer Reise nach Buenos Aires im Februar und März 2022
Auf den Tango! Christine Garbe mit El Chino, Toto und Tonio

Wir machen ein bisschen small talk, aber ich sitze nicht lange, und schon zeigt sich Abel, ein Tänzer aus vergangenen Jahren, umarmt mich freudig und führt mich auf die Tanzfläche. Auch Mehtin, der super Tänzer aus Istanbul, den ich jedes Jahr wiedersehe, ist hier und begrüßt mich herzlich, die nächste Tanda ist also gesichert. Und so geht es weiter: Ich treffe an diesem Abend unglaublich viele alte Freunde und Bekannte, bestimmt ein Dutzend: man ist also wieder hier! Immer gibt es ein großes Hallo, viele Umarmungen (hier meist ohne Maske) und ein Tänzchen, und ich habe kaum Zeit, meinen Sekt mit den berühmten Herren zu trinken. Das Orchester („Siempre Tango“) spielt wunderbar, die meisten Musiker*innen kennt man aus anderen Formationen, sie spielen das Repertoire von D’Arienzo bis Pugliese, das Tanzpaar wird gebührend gewürdigt, ab zwei Uhr morgens wird es – nach den Aufführungen – etwas leerer, aber dann darf später noch ein junges Paar vortanzen und als ich gegen 3 Uhr schließlich aufbrechen will, legt ein anderes Paar noch eine rasante ‚Chacarera‘ aufs Parkett, wie ich sie vor drei Jahren in Salta oft gesehen habe, dem Nordwesten Argentiniens, wo die Chacarera und die Zamba (die berühmtesten Folklore- Tänze Argentiniens) zu Hause sind ...


Zu Beginn des Abends hatte mir ein Freund erklärt, noch vor drei Wochen und im gesamten Januar sei der Salon Canning leer gewesen, nicht mehr als 40 oder 50 Personen am Abend, das sei sehr traurig gewesen – aber nun kehrt das Tangoleben offensichtlich zurück, der Saal ist voll und die Energie vibriert ... „Buenos Aires nunca cambia“, denke ich beglückt, als ich das Taxi draußen auf der Straße besteige, das vor dem Canning auf die müden Tänzer*innen wartet. Der Taxifahrer, Victor, erklärt mir auf der Heimfahrt, er arbeite für mehrere Milongas in der Stadt und fahre die Tänzer heim. Entonces, nos veremos ... („dann werden wir uns sicher wiedersehen“), verabschieden wir uns vergnügt.



Text: Christine Garbe

(Bericht von Ihrer Reise nach Buenos Aires im Februar/März 2022)


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