Tango Kolumne
Familie Tango
EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: TEIL 10 DER REIHE VON LEA MARTIN
Neugierig schaut meine Mutter mir über die Schulter. „Was für ein hübscher Familiename“, freut sie sich, „Tango, wie romantisch.“ Lachend erkläre ich ihr, dass bei WhatsApp all meine Tanzpartner so heißen. Miro Tango. Eric Tango. Stefan Tango. Ihre echten Nachnamen kenne ich nicht. Wer schon länger in der Tangowelt unterwegs ist, diferenziert sogar nach Schulen. „Miro TTMS“, „Miro Nou“, „Miro Tanguito“. Meine Mutter staunt. Sie kennt ihre Bekannten mit vollem Namen, weiß, wie alt sie sind und wo sie wohnen. In der Tangowelt herrschen andere Regeln, jedenfalls in einer anonymen Großstadt wie Berlin. Hier offenbart jeder nur, was er möchte. Tango wird (auch) als tänzerisches Angebot genutzt, unverbindliche Momente der Nähe zu genießen. Für meine Mutter wäre das nichts. Und für mich...?!
Ich bin neugierig auf Menschen. Und genieße Fremdes als reizvoll. Sich einzulassen, ohne zu wissen, was kommt, hat einen Zauber, der den Tango - und auch manche Milonga - ausmacht. Wo kommen die Tangueros her...?! Wo zieht es sie hin...?! „Tango“, werde ich aufgeklärt, „ist ein Versprechen, das nicht eingelöst werden will.“ „Von mir schon“, lache ich. Und verstehe vielleicht etwas falsch. Sind Menschen, die nur ihren Vornamen verraten, zwangsläufig suspekt...?!
Wer Tangoschuhe anzieht, erweitert sein Spektrum, probiert sich aus. Für einen Moment verblasst das Leben, das wir außerhalb der Tanzfläche führen. Wir kommen uns nah, auch wenn die Nähe einer Fata Morgana gleicht.
Tangotänzer, die von einer zur anderen Dame schwirren, immer auf der Suche, niemals am Ziel, locken wie verlorene Söhne, die eine unstillbare Sehnsucht in sich tragen. Das ist verführerisch... und verwirrend.
„Hi, hier ist Miro.“ Miro will einen Kurs mit mir machen. Heute. Sofort. In drei Stunden. Ich kann nicht...?! Morgen, übermorgen ist er verplant. Dann erst wieder Sonntag. „Sonntag 14 Uhr zur Practica?“ „Practica? Ich denke, du willst einen Kurs?!“ Unsere letzte Verabredung hat der junge Mann fünf Minuten vor Beginn per SMS abgesagt: „Bin zu müde“. Das wäre ich auch, denke ich, wenn ich mir den Kalender so zuknallen würde. Mein Vertrauen ist angegriffen von all den schwirrenden Tangovögeln, die das Flirrende, Ungewisse genießen und Tangopartnerinnen wie beim Pizzaservice bestellen. Oder verstehe ich schon wieder etwas falsch...? Und sollte mal anfangen zu genießen, was Familie Tango zu bieten hat, statt mit Abwehr zu reagieren...? Immerhin zeichnet es jede richtige Familie ja aus, dass man sich manchmal so richtig über sie aufregt.
"Familie Tango" aus „Tango Dreams“
Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2015
Foto: tangokultur.info