Tango Kolumne
Entzauberung
EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 25 DER REIHE VON LEA MARTIN
Man kann den Tango entzaubern. Wie man alles entzaubern kann. Den Tango, die Liebe, die Kunst. Überall finden sich Ernüchterndes. Im Tango sind das ungelenke Bewegungen, stolpernde Füße, unangenehme Gerüche, ganz zu schweigen vom Streit der Tanzpartner, wessen Schuld dies alles sei.
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Die Entzauberung tut gut wie Sushi nach zu viel Weihnachtsgebäck. Und doch setzt Weihnachten sich jedes Jahr wieder durch, die Entzauberung gehört längst dazu, als aufklärerische Beigabe, die dafür sorgt, dass auch die Intellektuellen unter uns ohne allzu viel Schuldgefühle etwas tun, das sich nicht so ganz mit ihrem Atheismus verträgt. Wer den Tango entzaubert, ist vermutlich enttäuscht. Jeder Enttäuschung gehen unerfüllte, meist große Erwartungen voraus. Die Abende, an denen sich partout kein Tango-Feeling einstellen will, sind oft Abende, an denen der Tango etwas leisten soll. Dem verweigert er sich... dem Phänomen Weihnachten darin verwandt. In den Ohren schrammt die Musik. Der Tanz bleibt steril. In den hohen Räumen will trotz Kerzen keine Atmosphäre entstehen, jedenfalls nicht für diejenigen, die unter Stress stehen.
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Wer hofft, vom Tango gerettet zu werden, hat sich getäuscht. In dem Spiegel, den er uns vorhält, sind Menschen mit unterschiedlicher Bereitschaft zu sehen aufeinander zuzugehen. Tango ist darauf angewiesen, dass jeder Schritt Teil eines fließenden Dialogs ist. Die Entzauberung des Tango ist ein Indiz für die unangenehmen Nebenwirkungen zu hoher Erwartungen. Wer den Tango benutzt, um etwas zu bekommen, das er nicht zu geben bereit ist, wird vermutlich enttäuscht. Ich bin, ich bleibe vom Tango verzaubert. Wenn die ersten Töne einsetzen, stellt sich die Verzauberung von ganz allein ein, ich schließe die Augen und warte ab, was geschieht. Meine Liebe zum Tango begann mit seinen Melodien und den Bewegungen der Tanzpaare, die an mir vorbeizogen. Bevor ich mich öffne, langsam, Schritt für Schritt, fühle ich mich von einem Rhythmus angezogen, der mich auffordert, zu mir und dem zu stehen, was gerade ist. Tango ist ein tanzgewordener Appell nicht in festgezurrten Strukturen zu verhärten, sondern mit den Sinnen zu fühlen, und seine Wirkung geht weit über das Parkett von Tanzschulen hinaus. Das mag man verklärend finden. Für mich ist es so wahr wie die glänzenden Augen von Kindern an Weihnachten.
"Entzauberung" aus „Tango Dreams“
Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2016
Foto: tangokultur.info​