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Tango Kolumne
Kunst des Folgens

 

EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 64 DER REIHE VON LEA MARTIN

Tango-Kolumne Kunst es Folgens

Zu folgen, denkt man, sei einfach. Wer folgt, muss ja „nur“ umsetzen, was ein/e Führende/r vorgibt. Die Führenden müssen die Richtung anzeigen, aufmerksam und ausbalanciert sein, selbstbewusst, musikalisch und kreativ. Und wir? Was macht eine/n gute Folgende aus? Je tougher eine Frau ist, je mehr sie mit beiden Beinen im Leben steht, desto schwerer wird es ihr fallen zu folgen. Beim Folgen geht es darum, sich dem Führenden anzuvertrauen, obwohl dieses Wort einen denkbar schlechten Ruf hat, zu Recht. Die Tango unterrichten, sprechen darum gerne von leaders (was weniger nach NS-Zeit klingt und und stattdessen nach Lied). Die Folgenden (oder followers) sind auf den leader fokussiert, reagieren auf seine Impulse, setzen sie um. Das klingt nach traditioneller Rollenverteilung, sieht jedoch nur so aus, denn tatsächlich ermöglicht uns der Impuls des/r Führenden, etwas zu tanzen, was wir allein niemals tanzen könnten.

 

Auf Milongas sind alle Varianten von Folgenden zu sehen: die Tonangebende, die kontrollierend nach unten schaut und ihren Fuß schneller setzt als geführt. Die Unsichere, die ängstlich zurückweicht, wenn der Führende seinen Oberkörper strafft, um ein Signal zu geben. Die Perfektionistin, die verkrampft bemüht ist, alles richtig zu machen, und über der Konzentration auf die Schritte des Führenden sich selbst und ihre Rolle vergisst. Und es gibt aber natürlich auch die Schwebende, die in den Armen des Führenden davon fliegt, als sei sie sein Instrument, das er spielt. Tango ist subversiv, er will, dass wir Gewohnheiten verabschieden, und eine dieser Gewohnheiten ist das binäre (oder auch Schwarz-Weiß-)Denken. Zu folgen heißt sich selbst zu führen. All das, was wir uns von Führenden wünschen, dürfen wir also zunächst von uns erwarten. Der Führende macht nur einen Vorschlag. Unsere Schritte setzen wir selbst. Wir haben die Wahl uns auf einen Impuls einzulassen, die Bewegung, die er in uns auslöst, zu gestalten – oder darauf zu verzichten.

 

Die Kunst des Folgens beginnt in dem Moment, da wir uns als Teil des Ganzen erfahren. Wir tanzen nicht Tango, weil wir geführt werden, sondern weil wir tanzen wollen. Jeder Schritt, jede Spannung, jede Umarmung bedarf einer Entscheidung, die wir selbst treffen. Die Qualität des Tango, den wir tanzen, hängt also nicht nur davon ab, wie gut oder schlecht der Führende uns führt, sondern auch davon uns, wie wir uns entscheiden zu folgen. Erst wenn wir den stillen Widerstand gegen eine Rolle aufgeben, die einen schlechten Ruf hat, und die Chance nutzen, die darin liegt, uns tänzerisch mit einem anderen Menschen zu verbinden, nähern wir uns der Kunst des Folgens, die den Dialog mit der/m Führenden so gestaltet, dass er darin unterstützt wird, uns über unsere Grenzen hinaus zu führen.

 

 

"Kunst des Folgens" aus „Tango Dreams“

 

Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2018
Foto: tango-argentino-online.com

 

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