Tango Kolumne
Letzte Tanda
EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 79 DER REIHE VON LEA MARTIN
Die letzte Tanda des Abends. Passiert sie? Oder vergibst du sie bewusst, wie ein Geschenk, das nur der Himmel sieht? Weil der Mann, dem du sie schenkst, schon die nächste umarmt, während du deine Stiefel anziehst und ihm zuschaust, wie er mit ihr dieselben Bewegungen vollzieht, die eben noch dir gehörten. Bist du eifersüchtig? Vermisst du seinen Blick? Oder denkst du, dass euch, bei aller gefühlten Nähe doch Entscheidendes trennt? Du hast ihn auserkoren für die letzte Tanda des Abends. Und er tanzt über diese Bedeutung hinweg, als sei das, was du ihm geschenkt hast, austauschbar.
Ein rotes Kleid wirbelt um seine Beine. Er setzt die Schritte exakt wie mit dir. Schaut nicht auf, als du an ihm vorbei Richtung Tür gehst. Ist versunken in einen Tanz, der gerade noch dir gehörte. Ist sie schöner? Besser? Wird er auch ihr Komplimente über ihr Kleid machen? Austauschbar zu sein ist das Schicksal aller Tangueras - und aller Tangueros. Die Austauschbarkeit hat kein Geschlecht. Du erinnerst dich an den Moment, als du in seinem Arm lagst. Und dir vorstelltest, seine Arme hielten dich nicht nur auf dem Parkett. Er gefällt dir. Nicht nur als Tänzer, sondern als Mann. Deshalb wird dir schwindelig, wenn er dich dreht. Du bist ein bisschen verliebt – oder träumst davon, es zu sein. Für herrliche drei Minuten. Du frohlockst, als er nicht nur eine Tanda, sondern zwei mit dir tanzt. Die letzte Tanda, bevor du gehst, schenkst du ihm. Und er bemerkt es nicht. Er bemerkt nur, dass es Spaß gemacht hat mit dir zu tanzen. Seine Umarmung, als er sich verabschiedet, ist aufmerksam, intensiv. Doch kaum hast du dich umgedreht, ist das rote Kleid in seinem Arm.
Du hast nicht die geringste Bedeutung für ihn. Oder denkst zumindest, dass es so ist. Er fragt nicht nach deinem Namen. Geschweige denn nach deiner Nummer. Du bist nur eine einfache Tanguera für ihn, deren Kleid ihm wie so viele andere Kleider gefällt. Die Auswahl ist reichlich. Die Männer baden darin. Der Prinz deines Abends wird dir keinen Schuh hinterhertragen, wenn du ihn stehen lässt. Du bist keine Prinzessin und wenn der DJ, der neben der Garderobe sitzt, dir einen Stuhl anbietet, dann hoffentlich nicht, weil er dich für gebrechlich hält. Dein Prinz hat seine schönen Augen, die dich gerade noch anlächelten, nun im Haar einer anderen. Sein Duft ist in deiner Nase, du spürst seine Energie unter deinen Händen. Und trägst deine Sehnsucht in die Kälte der Nacht, in der sie sich mit den Sehnsüchten vieler anderer Menschen vereint, als habe nichts irgendeine Bedeutung, am allerwenigstens die letzte Tanda, die irgendwer tanzt.
.
"Letzte Tanda" aus „Tango Dreams“
Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2019
Foto: tango-argentino-online.com​