Tango Kolumne
Lust an Verbindung
EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 63 DER REIHE VON LEA MARTIN
Kaum soll ich Tanzhaltung einnehmen, werde ich verspannt. "Can you feel it?" Der Tanzlehrer will mit mir den fließenden Wechsel von enger und offener Umarmung üben. Mein erster Impuls: Ich will fort. Es fällt mir schwer, die körperliche Nähe eines Fremden auszuhalten. Immer noch, immer wieder. Ich brauche Zeit, um mich zu öffnen. Mehr Zeit als wir haben. Fünfundfünfzig Minuten. Dann ist die Stunde vorbei. Unterrichtsgegenstand ist eine Enrosques, was auf deutsch „Du drehst dich ein“ bedeutet. Der Lehrer erklärt, dieses Eindrehen beanspruche alle Energie des Führenden, so dass er keine übrig habe, um die Folgende zu führen. Sie muss aus eigener Kraft um ihn kreisen, ja, ihm sogar etwas von ihrer Energie abgeben. "Pull my hand! And at the other side: push my shoulder!" Es kostet mich Überwindung, der Aufforderung zu folgen, und wieder einmal zeigt mir der Tango, wohin die Reise geht. Wenn ich diese Drehung nicht will, wenn ich sie nicht aktiv gestalte, verliert mein Partner Energie und die Bewegung fällt in sich zusammen. Ich bin verantwortlich für den Kreis, den ich um ihn ziehe, weil dieser Kreis ihm Stabilität gibt. "If you go one millimeter outside, the circle will be destroyed." Der Blick eines Verkehrspolizisten könnte nicht strenger sein. Ich werde mir meiner Rolle als Folgende neu bewusst und habe die Wahl: weiter in Angststarre verharren oder mich überwinden, aus mir herausgehen, mich trauen. Ein Funken von Trotz blitzt in mir auf, ein Funken von „Ich werde euch zeigen, was in mir steckt.“
Als ich meine Scheu überwinde, fühlt sich der Enrosques befreiend an. In gefühlt 120 Wiederholungen korrigiert der Lehrer jede Nuance meiner Bewegungen und schließlich fliege ich mit ihm im Kreis, als hätte ich nie ein Problem gehabt mit dieser anspruchsvollen Figur. Als Tipp wird mir mit auf den Weg gegeben: zu laufen (!), den Boden unter meinen Füßen zu spüren, mich zu erden. Das ist eine bittere Pille, wo ich mich doch schon so gut fühle. Wenn ich die Lektion der Stunde ernst nehme, ist Enrosques für mich – trotz aller Höhenflüge – verfrüht. Ich sollte erst mal üben, meine Hemmungen zu überwinden und Berührung zu üben. Berührung mit dem Boden, Berührung mit einem Partner, Berührung mit mir selbst und meiner eigenen Bewegung. Wenn ich nicht in einen Tango stolpern will, der aus mehr oder weniger sterilen Figuren besteht, dem aber das Innere fehlt: die Lust an Verbindung, muss ich diese Lust üben. In Umarmungen mit anderen. Und mit mir selbst.
"Lust an Verbindung" aus „Tango Dreams“
Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2018
Foto: tango-argentino-online.com