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Kolumne
Die Schattenseite des Tangos

 

EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: TEIL 8 DER REIHE "IN LOVE WITH TANGO" VON LEA MARTIN

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Udo ist einer der Tangotänzer, die man sich ohne Tango gar nicht vorstellen kann. Wenn er nicht arbeitet, ist er auf einer Milonga. Wenn er auf keiner Milonga ist, ist er auf einer Tango-Safari, einem Tango-Marathon. Tango ist sein Leben. Udo liebt Tango. Dachte ich jedenfalls, bis ich ihn gefragt habe, wie es ihm geht, während Corona. Meine Erwartung, er werde deprimiert er- zählen, wie sehr ihm Tango fehlt, wurde enttäuscht. Udo sagte, es gehe ihm gut. Der Tango fehle ihm nicht, im Gegenteil fühle er sich entlastet. Auf den Workshops, den Milongas gerate er oft in großen Stress. Alle anderen könnten besser tanzen als er, sähen besser aus. Er sei zu hässlich, sein Körper sei zu ungelenkig, um die Schönheit, die ihn am Tango fasziniert, zu erreichen. Natürlich ist Udo kein bisschen »hässlich« (was immer das ist) und auch nicht ungelenk. Vielen Frauen schenkt er wunderbare Tango-Momente. Das kann man sehen, an den Gesichtern, wenn sie mit ihm tanzen. Auch er selbst, wenn er tanzt, sieht glücklich und verträumt aus. Gern tanzt er mit geschlossenen Augen, in kleinen Zirkeln, ohne allzu viel Raum zu brauchen.

 

Sein Revier ist die momentweise Intimität, die er schenken kann. Man glaubt, im Buch seiner Seele zu blättern, wenn er mit einem tanzt. Udo ist schüchtern, zurückhaltend, wenig selbstbewusst — und voller Sehnsucht. Diese Eigenschaften nimmt er mit in den Tango, dort zeigen sie sich wie unter einem Vergrößerungsglas. Ohne Tango fühlt er sich sicherer, weil das Vergrößerungsglas fehlt. Dieses Vergrößerungsglas scheint die Schattenseite des Tangos zu sein. Erbarmungslos spiegelt er uns, wie wir uns sind. Wenn Udo andere Tänzer sieht, wünscht er sich, attraktiver zu sein, als er sich fühlt. Während viele Männer viel Wert auf ihr Äußeres legen, geht er selbst im verwaschenen Shirt zur Milonga, seine Frisur sieht aus, als hätte sie lange keinen Friseur mehr gesehen. »Lass dich vom Tango umarmen«, möchte ich ihm sagen. »Und mache das aus dir, was du sein willst.« In meinen Augen ist Udo einer der vielen Männer, die ihre Schönheit verstecken, statt sie zu zeigen. Ihr körperliches Selbstbewusstsein wurde deutschen Männern traditionell abtrainiert. Doch es ist nie zu spät, um es zurückzuerobern. Der Schatten des Tangos, der uns zeigt, wer wir (noch) nicht sind, kann hierzu ein Anstoß sein. Ich wünsche Udo, dass er diese Botschaft früher oder später annehmen kann.

„Die Schattenseite des Tangos" aus der Reihe "In Love With Tango". Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2020

 

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Foto: shutterstock.com, Danita Delimont

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