top of page

Tango Kolumne
Stolpertango

 

EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 75 DER REIHE VON LEA MARTIN

Kolumne Stolpertango von Lea Martin

Er fordert mich auf, als die Tanda fast zu Ende ist. Beim ersten Schritt steht er auf meinem Fuß. Beim zweiten stolpere ich über seinen. Bereits nach diesen ersten Schritten ist klar: Etwas läuft schief. Was aber ist dies Etwas, das dazu führt, dass zwei Menschen, die beide hinreichend viel Tango geübt haben, keinen Schritt miteinander tanzen können? Wir rumpeln noch ein wenig herum, dann ist der Tango, den wir verspätet begonnen haben, vorbei. Lachend löse ich mich aus der Umarmung, die ich als starr, ja, beklemmend erlebe. »Was für ein Auftakt«, sage ich. »Dabei bin ich nicht betrunken«, rechtfertigt sich der Tanguero. Erneut nehmen wir Tanzhaltung ein. Ich versuche mich noch mehr auf ihn zu konzentrieren. Doch worauf soll das sein? Obwohl ich ihn berühre, kann ich den Tanguero nicht spüren. Wo immer seine Energie sein mag, sie ist nicht in seinem Körper. Unvermittelt setzt er einen Schritt, rasch weiche ich zurück und greife damit in die Trickkiste aus Anfangszeiten, wo der Fehler vorauseilender Schritte plötzlich als nützlich erscheint. Hier macht er Sinn, ja, ist die einzige Chance, um mit dem kraftlosen Tänzer klarzukommen, der seine Schritte wahllose nach vorne wirft und seine fehlende Energie durch nichts kompensiert.

 

Viele Tänzer, denen die für eine sichere Führung nötige Körperspannung fehlt, kompensieren diesen Mangel durch motorische Kraft. Sie schieben die Folgenden über das Parkett, als wären sie Rangiergegenstände, und wenn sich das auch wenig erfreulich anfühlt, ist es zumindest erfolgreicher als das, was der aktuelle Tanguero anbietet: das vollendete Nichts. Er läuft, er dreht sich, er versucht mich zu drehen, ohne dass da die geringste Verbindung zwischen uns ist. Sein Tanz gleicht dem einer um sich selbst kreisenden Sonne, der egal ist, wie es den anderen Planeten gelingt, in ihrer Bahn zu bleiben. Immerhin rettet mich das Vorauseilen soweit durch den Stolpertango, dass er nicht zu Stürzen oder Karambolagen führt. Nach drei Minuten aber bin ich völlig erschöpft. Zum Glück ist auch die Tanda zu Ende und auch wenn mich der Tangeuro erwartungsvoll anlächelt, lasse ich mich zu keiner weiteren Mildtätigkeit überreden. Wie wir in die Tanda hineingestolpert sind, verlassen wir sie. Ob er je begreifen wird, was ihm fehlt? Vermutlich sucht er die Schuld bei den Folgenden, die zu unaufmerksam sind, um zu verstehen, was er will. Dabei fühlen sie es ganz genau, vom ersten Schritt: Er will tanzen, ohne in Kontakt zu sein mit sich selbst. Weil er nicht in Kontakt mit sich selbst ist, misslingt auch jeder Kontakt mit anderen.

 

"Stolpertango" aus „Tango Dreams“

 

Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2019
Foto: tango-argentino-online.com
​

 

>>zurück zur Rubrik "Tango-Kolumne"

bottom of page