Tango Kolumne
Die schönste Location
EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 13 DER REIHE VON LEA MARTIN
Jeden Abend die große Qual der Wahl: wohin gehen…?
In Berlin gibt es so viele Tango-Locations, das vermutlich nur wenige Tangofreaks alle kennen. Und wenn die letzte aufgespürt ist, macht garantiert gerade eine neue auf.
Jede Tanzschule bietet ihre eigenen Tanzabende (Milongas) an, meist mit einer vorgelagerten Übungsstunde (Practica) für alle Niveaus. An vielen Orten wagen (vor allem männliche) Anfänger sich kaum auf‘s Parkett. (Frauen haben es etwas leichter.) Bei Einsteiger-Milongas sind dagegen die Bedingungen für die Fortgeschrittenen eine Herausforderung: Gern wird kreuz und quer getanzt, noch ganz ohne Respekt vor den Milonga-Regeln, deren Verstoß anderswo mit (mindestens) bösen Blicken geahndet wird. Spitze Absätze sind eine Waffe, die einen schon mal kurz außer Gefecht setzen kann, und Lieblingsorte abhängig davon, welches Ambiente, welches Outift, welche Musik man bevorzugt. Es gibt die spartanisch schlichten Locations und die, wo es unter üppigen Kerzenständern nach Lilien duftet. Es gibt Orte voller glitzernder Kleider und Schuhe und andere, wo Turnschuhe keine Ausnahme sind. Und es gibt unterschiedliche Musikrichtungen. Klassischer Tango. Tango Nuevo. Oder Neo- bzw. Non-Tango. In Ankündigungen wird meist darauf hingewiesen, ob und wieviel (z. B. 20 %) von welcher Sorte gespielt wird. Vor allem bei dem auf Disco-Musik basierenden Neo-Tango scheiden sich die Geister. Während die einen die zu Experimenten verlockende Abwechslung des leichten Beat mögen, vermissen die anderen die anspruchsvolle Herausforderung des komplexen klassischen Tango.
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Doch Berlin ist nicht überall. Es gibt Orte, da wird überhaupt kein Tango Argentino getanzt. Oder nur alle zwei Wochen, freitags, im Wechsel mit Salsa. An so einem solchen Ort spielt der französische Film Man muss mich nicht lieben (2005) von Stéphane Brize. Eine der anrührendsten Stellen zeigt das Wohnzimmer des schwermütigen Gerichtsvollzieher, der sich in seine Tanzpartnerin, die leichtfüßige Francoise, verliebt. Erst trinken sie sich, brav auf dem Sofa nebeneinander sitzend, mit einem Gläschen Likör Mut an, dann üben sie el ocho rückwärts. Unter einer biederen Stehlampe und dem gerahmten Gemälde eines Segelschiffs führt der Gerichtsvollzieher bereitwillig die Anweisungen seiner Folgenden aus, bis ihre (unbeholfenen) Schritte verschmelzen: in spießigster
Umgebung, ganz ohne Musik. Die schönte Location, ganz ohne Frage, ist da, wo Tango Menschen verzaubert und sich Seelen berühren.
"Die schönste Location" aus „Tango Dreams“
Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2015
Foto: tangokultur.info​
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