Tango Kolumne
Tango unter´m Mikroskop
EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 36 DER REIHE VON LEA MARTIN
Laufen lernen, schon wieder. Die Schritte nur so weit setzen, wie der Fuß schwingt. Ihn abrollen, langsam. In Zeitlupe spüren, wie das Gewicht sich verlagert. Jede Sequenz des Schrittes wahrnehmen. Aktiv inszenieren.
Tango unter‘m Mikroskop, so fühlt es sich an, wenn im Technikkurs (wieder einmal) alles auf dem Prüfstand steht, was wir gerade noch zu können glaubten. Auch der (fast schon vertraute) Schwung, mit dem wir das Bein in einer Projektion nach hinten werden, kommt als passive oder aktive Projektion verfremdet auf uns zu. „Die meisten Folgenden werfen ihr Bein viel zu weit.“ Na toll. Schuldbewusst erinnere ich mich an die Freude, mit der auch ich mein Bein werfe. „Du rennst deinem Tanzpartner davon, bleib bei ihm, halte ihn auf, bremse.“ Bremsen...?! Ja, ich habe richtig verstanden. Die Folgenden sollen bremsen. Was die Führenden nicht etwa stört. Sondern unterstützt. Sie können dadurch besser lenken. Tango ist nicht wie Autofahren. Die Beifahrer/innen dürfen mitreden. Sollen es sogar. Sie sollen-dürfen-müssen so viel mitreden, dass am Ende ein Schweben entsteht, dem kaum noch anzusehen ist, wer das Gaspedal bedient. „Am besten, ihr tauscht mal die Rollen.“
Leicht wie eine Feder liegt Li in meinem Arm und wie durch ein Wunder versteht sie, wohin ich möchte, ja, sie folgt sogar dem Trick, mit dem ich sie aus dem Parallel- ins Kreuzsystem führe: Mein Oberkörper lässt sie das Standbein wechseln, während mein Standbein bleibt. So einfach ist Führen...?! Mein Respekt vor der Leistung der Führenden erhält einen Dämpfer. Bis zum Partnerwechsel. Freundlich lächelt die neue Folgende mich an. Versteht aber leider nicht, was ich will. Obwohl ich alles genauso mache wie bei Li. Hilflos sehne ich mich danach, wieder Folgende zu sein. „Du musst viel stärker dagegen halten“, werde ich vom nächsten Tanzpartner belehrt, der Tango mit Krafttraining verwechselt. Er drückt so fest gegen meine Arme, dass ich nach einer halben Runde heftige Nackenschmerzen habe. Ihm ist mein Bremsen noch immer nicht genug. Ich hole Tanzlehrer Sebastian zu Hilfe, der den Zangengriff lockert und erneut meine Projektion kritisiert: „Du rennst ihm davon, setz dein Bein nur so weit, dass du bei ihm bleibst.“ So fing die Stunde doch schon an..?! Was, um alles in der Welt, ist mit meiner Lernfähigkeit? Ich erinnere mich an meine Fahrstunden. Für Tango gibt es zwar keinen Führerschein. Aber es zu lernen kostet jede Menge Geduld, vor allem mit sich selbst.
"Tango unter´m Mikroskop" aus „Tango Dreams“
Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2017
Foto: tangokultur.info