Kolumne
Wie (un)politisch ist Tango
EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: TEIL 11 DER REIHE "IN LOVE WITH TANGO" VON LEA MARTIN
In seinem Blogbeitrag Tanz mit dem Coronavirus stellt Jörg Buntenbach, Herausgeber des Berliner Magazins tango-argentino-online.com fest, die Corona-Krise beweise, dass Tango nicht gegen Verschwörungstheorien immunisiert. Er verbindet seine Feststellung mit einem klaren Bekenntnis zur Demokratie und dem Appell, keine Lügen zu verbreiten, die einer Hetze glichen. Sein Beitrag polarisiert die Facebook-Öffentlichkeit. Eine Leserin wirft dem Herausgeber vor, die Spaltung der Gesellschaft und der Tangoszene durch Rechthaberei zu befördern. »Erhobene Zeigefinger gehören nicht zum Tango. Tango ist ein Refugium.« Die Diskussion dreht sich nicht um Corona, sondern um das Verhältnis zwischen Tango und Politik. Die Leserin erklärt: »Tango ist Vielfalt. Tango ist Freiheit.« Jörg Buntenbach fragt: »Tango ohne Politik? Geht das? Das ganze Leben besteht aus Politik. Und so auch der Tango.« Die beiden Ansichten verhaken sich ineinander wie ein Paar auf der Tanzfläche, das nicht harmoniert. Die Haltung, das ganze Leben bestehe aus Politik, steht der anderen gegenüber, die Politik auf die Regelung öffentlicher Angelegenheiten begrenzt. Während die einen politisches Engagement von jedem Bürger verlangen, verteidigen die anderen das Privatleben jedes einzelnen als einen Raum, der vor Übergriffen des Staates zu schützen ist.
Der Debatte um Corona liegen unterschiedliche Auffassungen von Politik und ihren Grenzen, von der Rolle des Staates und den Aufgaben der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde, die in Deutschland nie offen ausdiskutiert wurden, weil der Zeitpunkt, als dies zuletzt hätte geschehen sollen, durch die rasant herbei geführte deutsche Einheit überholt wurde. Die Demokratie in Deutschland hat sich nicht im freien Diskurs entwickelt, sondern sie wurde mehrfach übergestülpt. Die Härte, mit der die Debatte um Corona geführt wird, resultiert aus dieser spezifischen Geschichte. Dass beide Seiten das NS- Regime, das niemand mehr wolle, als Argument nutzen, um ihre Position zu untermauern, macht dies deutlich. Es geht nicht um Corona, sondern es geht um (fehlendes) Vertrauen in die (verhandelbaren) Spielregeln der Demokratie. Jörg Buntenbach vertraut dem bestehenden politischen System, andere um ihn herum tun es weniger — oder auch gar nicht.
Ich persönlich finde, eine Demokratie muss aushalten können, dass über sie diskutiert wird. Und ich finde auch, die Tangoszene muss aushalten können, dass Menschen ihre eigenen Gedanken haben. Das verbindende corazón (span. für Herz) der Tangolieder darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Tangoszene sich heterogen zusammensetzt, sowohl was die soziale Stellung der Tänzer/innen als auch was ihre politischen Haltungen angeht. In meinen Kolumnen weise ich auf diesen der Tangoszene inhärenten Widerspruch immer wieder hin, der nicht erst seit der Corona-Krise existiert. Trotz seines Inselcharakters ist Tango Teil der Gesellschaft, in der er getanzt wird.
Auf die Frage, ob Tango ohne Politik denkbar ist, antworte ich mit einem klaren Ja. Wer tanzen will, will keine Politik machen, sondern tanzen. Tango ist eine Insel neben vielen anderen Inseln: Sport, Kunst, Musik, Theater, Film. Tango ist eine Insel der Wärme in Deutschland, das Kopflastigkeit in allen Lebensbereichen über Gebühr strapaziert, nicht nur in der Politik. »Gehe hundert Schritte in den Schuhen eines anderen, wenn du ihn verstehen willst«, rät ein indianisches Sprichwort. Vielleicht könnten wir versuchen, die hitzigen Corona-Debatten als Herausforderung zu sehen, um uns daran zu gewöhnen, dass andere Menschen Dinge denken (und tun), die uns nicht gefallen. Private Meinungsäußerungen sind nicht zu vergleichen mit den öffentlichen eines Politikers oder einer Politikerin. Wenn ich mit jemandem Tango tanze, den ich nicht kenne, dann ist mir bewusst, dass ich nicht weiß, was er denkt. Das Verbindende im Tango ist nicht, dieselbe politische Grundhaltung zu haben, sondern das Verbindende ist die Freude an einem unglaublichen Tanz. Verbindend zwischen allen, die Tango lieben, ist die Dankbarkeit gegenüber den Tangoschulen und Tangoprofis, die alles tun, um die geliebte Tango-Insel während ihrer Corona-Quarantäne zu schützen, bis sie wieder aufblühen darf — völlig unpolitisch und wunderschön.
>> zum Blogbeitrag "Tanz mit dem Corona Virus" von Jörg Buntenbach
„Wie (un)politisch ist Tango?" aus der Reihe "In Love With Tango". Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2020
Ergänzung von Jörg Buntenbach:
Vielen Dank für die Replik, liebe Lea. Von meiner Seite zwei wichtige Ergänzungen:
1.: Auch ich bin der Meinung, dass die politische Diskussion nicht in eine Milonga oder in einen Tangokurs gehört. Außerhalb davon jedoch schon.
2.: Ich vertraue nicht zwingend dem politischen System, aber ich vertraue auf unsere freiheitlich demokratische Grundordnung. Das System an sich ist in vielen Bereichen reformbedürftig
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