Ein Gastbeitrag von Michael KI
Nicole Nau und Luis Pereyra touren mit ihrer Tanzshow Vida! im Herbst 2022 durch Europa. Eine Anfrage für ein Interview hat Nicole spontan bejaht – es fand am 2.11.22 im Foyer eines Hotels in ungezwungener Atmosphäre statt.
Die ersten beiden Fragen könnte man in ihrem wunderbar geschriebenen Buch »Tanze Tango mit dem Leben« im Detail nachlesen. Da nicht alle das Buch gelesen haben, habe ich die zwei ersten Fragen gestellt. Buchempfehlungen mache ich selten, aber dies ist eines der Bücher, das ich mit Vergnügen auch ein zweites Mal gelesen habe.
Michael KI von Bailemos-Tango.ch
Michael KI: Wie bist Du zum Tango gekommen?
Nicole Nau: Zum Tango Argentino bin ich eigentlich durch einen Zufall gekommen. Als junges Mädchen habe ich immer gerne getanzt, durfte aber nicht [Tänzerin werden], weil mein Vater meinte, dass die Balletttänzerinnen so furchtbar hochnäsig seien... Meine künstlerische Ader konnte ich über das Malen ausleben, war auch richtig gut darin, habe dann aber nach dem Abitur vor der Kunst gekniffen. ›Davon kannst du nicht leben‹, sagte ich mir, ›mach besser Grafik.‹ Die Grafik hat aber im Endeffekt mir die Kunst kaputt gemacht. Vielleicht war das vom lieben Gott der Hinweis, dass ich den Tanz wiederfinden soll. Wenn man wach bleibt auf seinem Weg, dann findet einen das Wichtige immer wieder. Ich habe während des Studiums immer getanzt – Flamenco, Jazztanz, Modern Dance, klassisches Ballett. Aber dann ist an mir der Tango regelrecht kleben geblieben – auf dem Weg nach Hause in Düsseldorf blieb mir am Schuh ein Zettel hängen. Ärgerlich wollte ihn wegknütteln, aber in Jugendstilschrift stand das Wort TANGO. Zu der Zeit wusste ich weder etwas über den Tango Argentino noch hätte ich etwas über Argentinien erzählen können. Aber für mich hatte das Wort etwas Magisches, da musste ich hin. Am meisten war ich von der Musik fasziniert. Etwa ein halbes Jahr später habe ich die legendäre Show ›Tango Argentino‹ gesehen. Ich weiss nicht, ob die heutigen Tangotänzer wissen, welche Bedeutung diese Show hatte. All diejenigen (oder 98%) tanzen Tango Argentino wegen dieser Show. Diese Show hat den Tango ins Bewusstsein der Leute gebracht und die Welt auf den Tango Argentino aufmerksam gemacht. 33 Künstler auf der Bühne, hervorragende Musiker, alles Individualisten, jedes Paar war anders und auf seine Art bezaubernd. Als ich diese Show gesehen hatte, habe ich mir gesagt: ›Du musst nach Argentinien. Das kann man nur in Argentinien lernen‹. Als Studentin musste ich Geld verdienen und sparen, kompliziert bin ich dann über Kanada nach Argentinien geflogen, weil der längere Weg deutlich billiger war …
Michael KI: Wie war die Situation des Tango in Buenos Aires, als Du zum ersten Mal dorthin kamst und den authentischen Tango lernen wolltest?
Nicole Nau: Im Dezember 1988 kam ich in Buenos Aires an, aber da gab es keinen Tango – das war sehr erschreckend. In Buenos Aires war es extrem heiss. Ich bin mit dem Bild dieser Show nach Argentinien geflogen, aber habe eine staubige, eine verbaute Stadt angetroffen, mit wenig Grün, eine Betonwüste, ein Moloch. Eine in der Zeit zurückgebliebene Stadt, alle, die Brillen trugen, hatten diese dicken schwarzen Brillengestelle. Es gab zu der Zeit nur wenig Häuser mit Telefonanschluss. Wenn ich telefonieren wollte, musste ich zu einem Münzfernsprecher gehen, aber diese funktionierten nur für Inlandgespräche. Wollte ich nach Deutschland telefonieren, ging das nur in einer Telefonzentrale, zu der ich sehr weit laufen musste. Argentinien war ganz jung Ende 1983 nach dem Malvinas- (Falkland)-Krieg (1982) aus der Militärdiktatur gekommen. Ich hatte irgendwie die Vorstellung, dass ganz Argentinien Tango tanzt, aber nicht mal Buenos Aires tanzte Tango. Später hatte ich Luis [Pereyra] gefragt, und er sagte, dass bereits seit den 60er Jahren der Tangotanz verschwunden war. Professionelle Tänzer gab es immer, aber das ist eine Handvoll, und die meisten davon waren mit der ›Tango Argentino‹-Show unterwegs. In Buenos Aires gab es insgesamt vier Salons, wirklich nur vier. In den Salons war es so, dass es immer dieselben Leute, die meisten ältere waren – etwa 20 Paare.
Michael KI: Kurz zusammengefasst: zu jener Zeit gab es nur vier Salons mit etwa 20 Paaren – wenn man es hochrechnet etwa 100 aktive Tänzer?
Nicole Nau: Im höchsten Fall. Die Profitänzer waren mit ›Tango Argentino‹ unterwegs. Im höchsten Fall hundert Tänzer. In den Tanzhäusern, heute nennt man sie Tangueria, ähnlich wie man es aus Spanien kennt mit ihren Flamencoshows, gab es Shows. Das waren keine Tangoshows, es waren Café-Concerts – das heisst, dass am Abend verschiedene Dinge dargeboten wurden: Jazz, vielleicht ein klassischer Sänger, eine Folklore-Einlage, eine Tango-Einlage. Zu der Zeit gab es noch keine Tango-Show an sich.
Michael KI: Der Tango Argentino hätte in Argentinien seine Stellung nicht erhalten, wenn es nicht die Anerkennung und das Tangofieber in Paris und Europa in den 1920er Jahren gegeben hätte.
Die Frage in ähnlichem Zusammenhang: In den 80er Jahren kamen Tangoshows wie ›Tango Argentino‹ auf die Bühnen und sorgten in Europa für grosses Aufsehen und Interesse. Gab es auch diesmal eine Rückkopplung nach Argentinien? Was ist deine Beobachtung?
Nicole Nau: Die Show ›Tango Argentino‹ war eigentlich ein Zufallsprodukt. Segovia und Orezzoli hatten ursprünglich eine andere Show konzipiert, die wie eine Revue gedacht war: Komiker, Schauspieler, viele Sänger – die Tänzer waren nur Beiwerk. Die Presse hatte dann aber nur über den Tanz geschrieben. Damit war für Segovia und Orezzoli klar, dass sie die Show umkonzipieren mussten, wenn sie weltweit Erfolg haben wollten.
Wenn wir die Situation anschauen in den 1980er Jahren – der Tango war nicht verschwunden, denn manche Orchester spielten noch – Federico, Troilo, Pugliese und andere. Es war nicht so, dass Argentinien keinen Tango mehr gehabt hätte – aber der populäre Tanz war weg. Erst nach der ›Tango Argentino‹-Show und dem Interesse des Auslands wurde der Tango wieder populär für das Volk in Argentinien. Ohne diese Show und ohne den Tourismus wäre das nicht passiert.
Michael KI: Und in diesem Jahrhundert? Wie wäre es der Tango-Szene in Bs As ergangen, wenn es nicht den Tango-Tourismus nach Bs As geben würde? Ein bekannter Tango-Tänzer sagte 2019, dass die Tango-Tänzer in Bs As eine verschwindend kleine Minderheit sind.
Nicole Nau: Für Luis und mich ist es so, dass der Tango Argentino nur durch das Zutun des Auslandes überlebt. Oft wird die Schuld der Diktatur gegeben, weil die Diktatur es nicht erlaubt hätte sich populär auszudrücken. Der Folklore ist es nicht so ergangen. Die Folklore lebt extrem aktiv in Argentinien. Man sagt auch, dass die amerikanische Musik den Tango verdrängt hätte. Im Tango Argentino gibt es ein Riesenloch, als wenn der Argentinier an seiner Kultur kein Interesse hätte. Er hat dann Interesse, wenn es ein Geschäft wird. Das passiert nicht mit der Folklore, die argentinische Folklore leidet nicht darunter. Jeder kann Chacarera, jeder kann Zamba, jeder kann Gato. Man tanzt und lebt sie einfach.
Im Tango war das nicht so. Als das Populäre, die grossen Tanzveranstaltungen verboten waren, blieb lediglich eine kleine Gruppe Tangoliebhaber, die abends loszog, um den Orchestern zu lauschen. Eine Nische, auf die sie auch sehr stolz und eifersüchtig waren. Sie fühlten sich dann von den Touristen verdrängt, in ihrer Intimität gestört und blieben auch weg.
Es gibt heute viele, die daran hängen wegen des Geschäftes. Da hängt so viel Geschäftemacherei dran, was dem Tango nicht gut tut. Ich spreche hier nicht von den Künstlern oder Liebhabern, sondern denen, die auf den Zug Tango aufgesprungen sind und ihn lediglich benutzen.
Michael KI: Willst Du etwas über das Tournéeleben erzählen? Es sind sicher nicht nur die schönen Momente auf der Bühne....
Nicole Nau: Es ist eigentlich kein Beruf, keine Tätigkeit mit geregelten Arbeitszeiten, es ist eine grosse Herausforderung. Unser Körper ist unser Instrument, deshalb müssen wir immer auf unseren Körper aufpassen. Damit meine ich nicht eine Diät, sondern: mach keinen Sport, bei dem du dich verletzen kannst, übernächtige nicht, heb nicht zu schwer, damit du dir nicht etwas kaputt machst. Diese Verantwortung… denn es betrifft nicht nur mich, sondern auch meinen Mann, er kann dann auch nicht tanzen. Und es hängt die ganze Compagnie dran. Immer trainieren, immer aufpassen. Bei uns ist das nicht so, wie man es von den Rockmusikern hört… (Sie lacht.) Der braucht vielleicht seinen Push, aber er braucht auch kein gutes Gleichgewicht.…
Wir haben monatelange, harte Probezeiten, wir machen nicht nur Tango Argentino, sondern darüber hinaus erzählen wir von der Musik vom ganzen Land – der Tango hat auch viel von der Folklore in sich. Welche Situation aus dem Leben nehme ich und stelle es auf die Bühne? Unter dem Asphalt liegen ganz viele Ochos, die schon getanzt wurden. Diese Personen zu achten …
Irgendwann mal kommt der grosse Moment… Aber vor dem grossen Moment kommt sehr viel Organisation: Versicherungen, Kostüme, Licht, Bühnenbild, eine Agentur finden, Theater anmieten, Werbung machen… dahinter steckt ein Riesenaufwand, von dem die wenigsten wissen.
Wir spielen eine Nacht in einer Stadt, räumen dann zusammen und fahren in der gleichen Nacht zum nächsten Veranstaltungsort. Nach dem Aufstehen fahren wir direkt in das Theater und müssen dort den ganzen Aufbau machen. Die Kostüme müssen gebügelt und genäht werden, das Licht, die Positionen, der Soundcheck… es ist ein extrem anstrengendes Leben.
Michael KI: Wie viele Leute sind in der Compagnie?
Nicole Nau: Wir sind zwölf Künstler auf der Bühne, in der Technik sind es weitere sechs. Dann kommt noch die ganze Agentur, die Presseleute, die sich um die Werbung kümmern müssen. Im Ganzen sind es etwa 30 Mitarbeiter.
Michael KI: In der Einschätzung von vielen ist der Tango Argentino vielleicht das grösste Kulturgut, das Argentinien hervorgebracht hat.
Nicole widerspricht: »Wer sagt denn, dass der Tango Argentino das grösste Kulturgut ist?« Nicole sieht den Tango als Teil der argentinischen Kultur, als urbane Folklore. »Als Luis die Nationale Tanzschule (Escuela Nacional de Danza) absolvierte, lernte man Tango als einen der Folkloretänze Argentiniens.
Das in Argentinien bekannteste Kulturgut ist mit Sicherheit die Chacarera. Jeder kennt und kann Chacarera und Folklore tanzen. Die gehört dem Volk. Der Tango Argentino kommt aus einem kleinen Teil des Landes, der Hauptstadt Buenos Aires und nicht aus diesem Riesenland. Das ist ein kleiner Teil, aber es ist der Teil, der Argentinien weltweit bekannt gemacht hat.
Michael KI: Aber wie sieht es mit der Förderung des Tango argentino von staatlicher Seite aus? Gab es die je?
Nicole Nau: Nein. Kunst und Kultur bekommt eh wenig Unterstützung. Hin und wieder wird mal der Eine oder Andere geehrt. Aber Hilfe bekommt der Tango nicht.
Michael KI: In Europa gibt es eine staatlich subventionierte Klassik-Kultur. Gibt es so etwas auch für den Tango in Argentinien?
Nicole Nau: Auch in Argentinien gibt es die subventionierte Klassik-Kultur, als Beispiel das Teatro Colón, das vom Staat und der Stadt bezahlt wird. Für den Modern Dance gibt es das auch.
Der Tango Argentino und die Folklore sind vom unteren Volk. Der einzige, der den Tango wirklich unterstützt hat, war Perón. Juan und Eva Perón haben die grossen Feste geliebt. Und es gab das von Perón erlassene Gesetz, dass 50% der gespielten Musik argentinisch sein musste.
Michael KI: Kurz zusammengefasst: obwohl Argentinien von dieser ganzen Tangobewegung profitiert, gibt es für euch, die Künstler und die Milongas, keine staatliche Unterstützung?
Nicole Nau: Nein. Gab es auch noch nie. Auf der einen Seite ist es schade. Aber die Politik engagiert bei öffentlichen Veranstaltungen nur ihnen genehme Künstler. Bei diesen Veranstaltungen für das Volk muss man keinen Eintritt bezahlen, das ist alles frei. Nur Künstler, die ihnen genehm sind und die sie politisch unterstützen, werden angefragt. Das bedeutet für die anderen, die nicht für die herrschende Regierung, die nicht pro Cristina Kirchner sind, dass sie kein Engagement bekommen. Argentinien ist ein korruptes Land. So etwas ist gefährlich für die Kunst.
Wenn es jede Woche eine Gratisveranstaltung gibt, und ein unabhängiger Künstler möchte für seine Veranstaltung 5 oder 10 € haben, oder selbst wenn es nur 1 € wäre – die Leute gingen zur staatlichen Gratisveranstaltung.
Michael KI: Es ist eine traurige Sache, wenn Kunst von der Politik vereinnahmt wird.
Nicole Nau: Ja, absolut.
Die Leute werden immer abhängiger [vom Staat]. Im Moment sind über 60% der Kinder unter der Armutsgrenze. Also nicht arm, sondern unter der Armutsgrenze. Es sind nur noch glaube ich etwa 8 Millionen Personen (von 44 Millionen), die Steuern zahlen. Die anderen bekommen staatliche Unterstützung (sogenannte ‘Planes‘). Die Mittel- und die obere Klasse zerbricht bald unter dieser Last. Es ist eine gefährliche Situation. Das Volk wird abhängig. Das Land ist sehr gross, und manche hätten lieber eine Schaufel und einen Sack voll Samen anstatt Sozialhilfe, die aber oft mit staatlichen Auflagen gekoppelt ist und gleichzeitig eine staatliche Hörigkeit fördert. Es gibt Familien, die haben weder den Vater noch den Grossvater noch den Onkel noch den Bruder je arbeiten sehen. Sie leben seit Generationen von staatlicher Unterstützung. Das ist dramatisch. Die Kriminalität ist dramatisch. Der Drogenhandel ist dramatisch. Argentinien, speziell Rosario, ist ein Umschlagplatz von Drogen geworden.
Es gibt in Argentiniens seit vielen Jahrzehnten nur die Zweiteilung in Peronist oder Nicht-Peronist.
Michael KI: Das ist eine simple Zweiteilung, eine gefährliche Spaltung, die sich in der jetzigen Zeit ausbreitet und die man in verschiedenen Ländern beobachten kann …
Nicole Nau: Wir haben diese Spaltung zurzeit in Brasilien, in England, in den USA, das ist gefährlich.
Michael KI: Und dann kam Corona....
Nicole Nau: Bei uns in Argentinien waren die Coronamassnahmen extrem heftig, mehr als in Europa. Wir hatten 8 Monate absolutes Ausgehverbot, wir durften nicht spazieren gehen, nicht auf die Strasse, wir durften nur Lebensmittel einkaufen gehen, und an der Ecke stand die Polizei und hat darauf aufgepasst. Es gab unheimlich viele Probleme mit Gewalt, Frau und Mann, die nicht mehr arbeiten konnten und finanziell Riesenprobleme hatten, auch die Kinder durften nicht raus… Grosse Probleme innerhalb der Familie – grauenvoll.
Zu der Zeit gab es keinen Tango, keinen Paartanz, keine Shows – gar nichts. Die ersten Shows wurden erst wieder im Dezember 2021 angeboten.
Michael KI: Eineinhalb Jahre, da alles verboten war...
Nicole Nau: Ja. Auch der Flughafen wurde geschlossen, man konnte auch nicht mehr wegfliegen. Luis und ich wollten mit einem humanitären Flug das Land verlassen. Obwohl wir verheiratet sind, hätte ich ihn nicht mitnehmen können. Das ging nur über eine Sondergenehmigung der deutschen Botschaft.
Es war eine Situation, die sehr viel Angst gemacht hat. In Argentinien hat es kaum Corona-Hilfen gegeben. Einer Familie hat der Staat 10‘000 Pesos gegeben. 200 Pesos waren zu der Zeit etwa 1 Dollar – also 50 $ ! Für die ganze Zeit und pro Familie, nicht pro Person – das ist lächerlich.
Michael KI:Die Leute hier in Europa können sich kaum vorstellen, wie das in Argentinien gelaufen ist…
Nicole Nau: Nein. In Argentinien sind auch viele Leute gestorben, was u.a. daran lag, dass es kaum ausreichend medizinische Versorgung, wenig Masken, wenig Kliniken, wenig medizinische Hilfe gab. Sie können auch nicht telefonieren, und wenn sie telefonieren können, kommt niemand.
Es war eine sehr schwere Zeit für uns, ich bin nahe an einer Depression gewesen. Für Luis und mich war nicht klar, ob wir überhaupt je wieder auf die Bühne können. Trotzdem haben wir jeden Tag im Studio trainiert, das hat uns gerettet. Wenn man das 8- 9- 10- 11 Monate macht, entsteht ein Gefühl, dass man einen Liebesbrief schreibt, und dann schmeisst man ihn in den Müll. Jemand meinte: ›Ein Liebesbrief, der nicht beantwortet wird.‹ – Nein. Wenn ich vor Publikum tanze und keiner macht eine Regung und niemand applaudiert – das wäre ein Liebesbrief, der nicht beantwortet wird. Es ist wie ein weggeworfener Liebesbrief, denn niemand kann ihn lesen.
Wir mussten der Möglichkeit ins Auge schauen, dass unsere Karriere vorbei ist, dass wir nie mehr auf die Bühne kommen. Insbesondere, wenn man sieht, mit welcher Panik die Politik reagiert hat. Die ganze Kunst, die ganze Kultur war weg.
Dann kam der sonderbare Vorschlag, dass wir via Zoom arbeiten könnten. Ich habe mich geweigert, ich habe gesagt, ich mache lieber irgendetwas anderes, aber über Zoom arbeite ich nicht, es wird der Kunst nicht gerecht. Aber selbst Kulturminister haben es nicht verstanden und gesagt, man hätte ja eine neue Plattform. Aber die, die sich mit den neuen Medien beschäftigen, haben tolle Sachen gemacht.
Michael KI: Die Situation nach den Corona-Massnahmen? Wie ich hörte, sind in Argentinien alle C-Massnahmen abgeschafft worden?
Nicole Nau: Die Corona-Massnahmen wurden nicht abgeschafft, sondern Maradona starb. Die Politik brauchte etwas, um die Leute wieder auf ihre Seite zu ziehen. Diego Maradona wurde in einem öffentlichen Gebäude aufgebahrt, es wurde von heute auf morgen erlaubt, dass in diesem Gebäude das ganze Volk sich von ihm verabschieden durfte. An seinem Sarg standen sie in Massen – und einen Tag davor waren sie noch in Isolation. Da haben die Argentinier gesagt: Ihr könnt uns mal … Ich glaube, das Volk hat die Massnahmen abgeschafft. Sie haben sich gesagt: wenn ich heute zu so einer Massenveranstaltung darf und gestern noch isoliert in meiner Wohnung sitzen musste, darf ich heute auch arbeiten. Sie haben einfach ihre Geschäfte aufgemacht, die Masken heruntergerissen und gesagt: Jetzt reicht‘s.
Michael KI: Die Milongas – sind sie wieder gekommen?
Nicole Nau: Viele Milongas arbeiten jetzt wieder normal, die Tangohäuser arbeiten wieder, in der Zwischenzeit haben wir in Buenos Aires auch wieder eine Aufführung gemacht, das Theater war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Das Kulturleben ist wieder zurück.
Den Argentiniern geht es dennoch nicht gut – bei einer Inflation von 100 % ! So kann Nichts wirklich gut gehen. Dass ein an Ressourcen so reiches Land in einer Dauerkrise steckt und auch nicht daraus herauskommt, liegt daran, dass ein korruptes System herrscht. Es ist unfassbar, wie viel Armut es in diesem Land gibt.
Das Interview hat Michael KI von Bailemos-Tango geführt
Fotos: PR El Sonido de mi Tierra Producciones
Hinweis:
Themenvorschläge für unseren Blog oder Gastbeiträge können uns gerne per E-Mail an kerstin@tango-argentino-online.com zugeschickt werden.
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