In hellem Anzug, mit Weste und stattlicher Figur sieht er nicht nur aus wie ein Landlord der Kolonialzeit. Er benimmt sich auch so. Auf einen Stock gestützt, lässt er seinen Blick wohlgefällig über die Tanzenden schweifen.
Er ist kein Dauertänzer, den man unentwegt von einer Dame zur nächsten wechseln sieht, sondern ein Genießer. Die wenigen Tangueras, denen er seine Gunst gewährt, haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind jung, hübsch, schlank. Seitdem ich Tango tanze, provoziert mich sein Anblick, weil er eine patriarchale Überheblichkeit gegenüber Frauen zu verkörpern scheint, als seien sie Luxusgegenstände, an die strenge Qualitätsanforderungen gelegt werden, während man selbst es sich gut gehen lässt. Vor allem ärgert mich, dass er mich übersieht. Sein Übersehen bedeutet, dass ich in seinen Augen weder hübsch noch jung bin. Während man ihn, aufgrund seiner Erscheinung, nicht übersehen kann, bewege ich mich unter seinem Radar.
Und dann geschieht das Unglaubliche, ausgerechnet an einem Ort, der selbst wundersam genug ist. Es handelt sich um die Fläche des ehemaligen Primark-Kaufhauses im Schlossstraßen-Center Berlin-Steglitz, das Insolvenz anmelden musste und leer stand, bis es eine kulturelle Zwischennutzung erleben durfte, organisiert vom Zentrum für internationale Kunst. Nach Auszug der Billigkette aus England, die im bürgerlichen Steglitz-Zehlendorf offenbar nicht das konsumberauschte Publikum fand, das sie braucht, bietet die komplette Fläche des Erdgeschosses nun Raum für Inline-Skater, Ausstellungen und Tangotanzabende. Ein Tanguero, der ohnehin findet, dass der Staat das Geld seiner Leistungsträger zum Fenster hinauswirft, murmelt et- was von Verschwendung von Steuergeldern, aber für mich ist die Verwand- lung des Konsumtempels in einen soziokulturuellen Veranstaltungsort ein wahr gewordener Traum. Ich habe schon ein paar Tandas hinter mir und entferne mich gerade von der Tanzfläche, um mir die Bilder einer Ausstellung über Faulheit anzusehen, die schlafende Männer zeigt, keine Frauen, als mich von hinten jemand am Arm nimmt. Als ich mich umdrehe, steht da der Landlord himself. Mit charmantem Lächeln führt er mich auf die Tanzfläche, und als ich an seinem Bauch über den ehemaligen Kaufhausboden gleite, erfüllt mich ein glücklicher Stolz. Ich erinnere mich an die Empfehlung der deutsch-jüdischen Lyrikerin Hilde Domin, dem Wunder die Hand hinzuhalten, und fühle mich jung und schön, in den Armen des wählerischen Landlords, dessen Art zu tanzen mich überrascht. Er führt uns über die Bahn, als liefen wir Schlittschuh, und erst nachdem wir uns warm getanzt haben, flicht er spritzige Mikro-Bewegungen ein, die er in keiner Tanzschule gelernt haben kann. Seine Arme, Schultern, seine Hände, sein Kopf, alles lädt mich ein, die kleinen Pointierungen der Musik aufzugreifen, für einen Dialog, der sich frisch und humorvoll anfühlt. Ich beginne zu lachen. Mit dem Lachen werde ich offen dafür, dass der Landlord seine Arme öffnet, um uns, ebenfalls wie beim Schlittschuhlauf, nebeneinander gleiten zu lassen. Für kurze Moment entlässt er mich ganz. Ich bin frei, mich zu bewegen, nicht durch Berührung, sondern nur noch durch Aufmerksamkeit verbunden.
Hätte er den Tango so begonnen, hätte ich mich überfordert gefühlt. Dank der geschickten Dramaturgie genieße ich den getanzten Flirt. Ich spüre, dass der Landlord die Energie, die der in seinen Tango fließen lässt, aus einer intensiven Verbindung mit der Musik zieht, und plötzlich verstehe ich, warum er bevorzugt mit jungen Frauen tanzt, von denen er annehmen kann, sie sei- en noch unerfahren. Während erfahrene Tänzerinnen wissen, was sie wollen, ist Unerfahrenheit offen für Neues. Hätte mich der Landlord nicht quasi entführt, als ich gerade Bilder über Faulheit anschauen wollte, wäre ich seinem Blick möglicherweise ausgewichen oder hätte ihn nicht bemerkt, weil ich mich bereits in der Wahrnehmung eingerichtet hatte, übersehen zu werden.
Nun bittet er um eine Pause. Wir setzen uns an den Rand der Tanzfläche. Er gesteht, dass seine Kraft weniger wird, deshalb auch der Stock, der ihm hilft, sein Gleichgewicht zu halten. Während des Tanzens verschwinden diese Probleme. Ich verstehe, was er meint. Es ist der Charme des Tangos, dass er unseren Körper gleichzeitig zu Höchstleistung anspornt und ihn uns vergessen lässt. Für glückliche Momente schenkt er das Gefühl, alles sei möglich.
Aus den Augenwinkeln beobachte ich die jungen Leute auf der Skaterbahn. Einzelne beginnen sich zur Tangomusik zu bewegen. Obwohl sie die versonnene Milongarunde vermutlich wie einen Seniorenzirkel betrachten, färbt plötzlich etwas ab, das ihren geschwindigkeitsberauschten Bewegungen eine neue Eleganz verleiht. Der Landlord wirkt beseelt und erschöpft. Ich umarme ihn zum Abschied wie einen Freund.
Text: Lea Martin (2024)
Bild: Archiv Onlinemagazin TANGO SOCIETY
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