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Lea Martin

Kolumne: Tango, trotz Terror

Die Kundgebung vor dem Brandenburger Tor dauert noch an, als ich weitergehe, um Tango zu tanzen. Tango, trotz Terror — ist das angemessen? Die Frage ist falsch gestellt. Ich will, ich muss tanzen. Weil ich Tango liebe. Die Musik fängt mich auf. Die Füße der Tanzenden bewegen sich wie immer. Was geht in ihren Köpfen vor? Möchte ich es wirklich wissen?



Nahost-Konflikt: Kundgebung vor dem Brandenburger Tor in Berlin vor dem Tangotanzen
Kundgebung vor dem Brandenburger Tor in Berlin


Während ich am Rand der Tanzfläche sitze, wehen vor dem Brandenburger Tor israelische Flaggen. Bundespräsident Walter Steinmeier ruft dazu auf, den Schutz jüdischen Lebens als Bürgerpflicht wahrzunehmen. Zwei Wochen ist es her, dass Terroristen Israel überfallen und ein Massaker angerichtet haben, unter jungen Menschen, die auf einem Musikfestival ihre Liebe zum Leben gefeiert haben, und in unzähligen Wohnhäusern, in die sie eingedrungen sind, um zu töten. Ich werde die Bilder nicht los. Stelle mir vor, wie Terroristen mit Maschinengewehren in den Tango- Raum eindringen, wild um sich schießen. Panik bricht aus.

Viele meiner Tango-Freunde werfen mir Einseitigkeit vor. Erinnern an die Toten im Gaza-Streifen. Ich denke an die Menschen, die der Bombardierung deutscher Städte zum Opfer fielen, weil die Alliierten Hitler aus- schalten wollten. Bei allem Leid — Hitler war der Böse, nicht England oder die USA. Ist die Identifikation mit den Palästinensern als »Volk ohne Land« ein später Reflex auf Hitlers Propaganda vom »Volk ohne Raum«?

Ein Tourist spricht mich an, er kommt aus Paris. Als ich berichte, ich hätte gerade gegen Antisemitismus demonstriert, erklärt er, in Frankreich seien Demonstrationen verboten. »Demonstrationen für Israel?!«, frage ich irritiert. Er wirkt überrascht, als habe er sich bislang keine Gedanken darüber gemacht. Ich wünschte, der Veranstalter würde etwas sagen. Worte, die mir das Gefühl geben, uns ist allen bewusst, dass der Hamas-Terrors einem Volk gilt, das den Tango maßgeblich geprägt hat. Viele Musiker und Komponisten, die nach Argentinien auswandern mussten, haben jüdische Wurzeln. Die Geige, als Instrument, soll von Juden in den Tango gebracht worden sein und seine Nähe zum Klezmer begründen. Selbst in Konzentrationslagern wurde Tango gespielt, wenn auch nicht nur freiwillig. In seinem Tangolied Dance me to the end of love erinnert Leonard Cohen, ebenfalls Jude, daran. Im Ghetto von Wilna schreibt Shmerke Kaczerginski nach der Ermordung seiner Frau das Gedicht »Friling« (Frühling), das Abraham Brudno mit einer lyrischen Tangomelodie vertont: »Frühling, nimm mir meine Trauer, / und bring meinen Liebsten, meinen Treuen zurück. / Frühling, auf deinen blauen Flügeln, / nimm mein Herz mit, und gib mir mein Glück zurück.« Weder dieses noch ein anderes Stück wird gespielt, keine Trauerminute eingelegt, kein Wort gesagt.

Es gelingt mir nicht, die Bilder des Terrors auszublenden. Die getöteten Mädchen könnten meine Töchter sein. Ein junger Mann wird ermordet, als er anderen hilft. Ich will gerade aufbrechen, da spricht mich Tomasz an:

»Du ... hier?« »Ich gehe gerade.« »Angesichts der Weltereignisse ... bevor du gehst, lass uns tanzen.«

Ich bin froh, mit jemandem zu tanzen, von dem ich sicher weiß, dass es

für ihn kein Ja, aber gibt, keine Relativierung von Terror. Seine Großeltern und Eltern haben den NS-Terror erlebt. Ihre Erinnerungen trägt er in seiner Seele. Die Frage, was in den Köpfen derer vorgeht, die ich umarme, hat eine andere Relevanz als noch vor zwei Wochen. Die Freiheit und Sicherheit, die mir erlauben, Tango tanzen zu gehen, allein, als Frau, ist mir selten so kostbar vorgekommen wie heute.



Text und Foto: Lea Martin


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