Ist der Tango eine Blase oder Teil der Gesellschaft?
Nachdem Teil 1 mit dem Untertitel „Die Krise beweist: Tango immunisiert nicht gegen Verschwörungstheorien“ vor allem bei Facebook zu Diskussionen angeregt hat, soll an dieser Stelle noch einmal darauf eingegangen werden. Auf der einen Seite gab es sehr viel Zustimmung - auf der anderen gab es jedoch auch LeserInnen, die den Text als „schockierend“ empfanden und die entsetzt waren. Ihr Vorwurf: Der Text spaltet die (Tango-)Gesellschaft und stellt jemanden an den sozialen Pranger. Hintergrund: Am Rande eines Tangokurses wurde u.a. behauptet, dass Kinder beim Tragen einer Maske gestorben seien. Abgesehen davon, dass diese Behauptung nichts in einem Tangokurs zu suchen hat, ist sie falsch! (einen Faktencheck dazu gibt beim ZDF: >>Link). Rhetorische Frage an dieser Stelle: Ist das eine Meinung - oder eine Falschmeldung, die doch wohl eher zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt? (der gesamte Sachverhalt ist im Teil 1 nachzulesen). Ist es nicht viel schockierender, wenn Corona-Leugner sich nicht an die Maskenpflicht halten, ungefragt alle möglichen Personen zur Begrüßung umarmen und damit riskieren, andere anzustecken?
In Teil 1 ging es lediglich darum, einen Vorfall innerhalb der Tangoszene zu beschreiben und festzustellen, dass es Tangueros und Tangueras gibt, die eine alternative Meinung haben, die für viele andere rein gar nichts mit der nachweisbaren Realität zu tun haben (an dieser Stelle stellen sich manche die Frage: „Was genau ist die nachweisbare Realität? Die aus den so genannten Mainstream-Medien und anerkannten Fachleuten - oder die der so genannten alternativen Medien und der „verkannten“ Experten?“ Egal, welches Medium bemüht wird: Die Fakten und seriöse Quellenangaben sollten schon nachvollziehbar sein und stimmen. Das gilt natürlich auch für die etablierten Medien. Seiten ohne Impressum oder ohne Angabe zum Verfasser eines Textes sollten kritisch betrachtet werden. Es ist grundsätzlich gut, dass es ergänzend zu den Öffentlich-Rechtlichen Sendeanstalten, zu den etablierten Tages- und Wochenzeitungen und anderen als seriös geltende Medien alternative Sprachrohre wie z.B. den YouTuber Rezo (der Meister der Quellenangaben, der überwiegend ganz andere als politische Themen aufgreift) oder der YouTube-Kanal mailab von Mai Thi Nguyen-Kim gibt. Das ist zu begrüßen. Unabhängige Stimmen und Medien sind ein wichtiger Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft.
Natürlich darf man eine Meinung haben, die nicht mehrheitsfähig ist - aber man muß auch damit leben, wenn diese Meinung nicht einfach so hingenommen wird. Und man muß auch damit leben, wenn eine Meinung nicht als Meinung, sondern primär als Stimmungsmache oder gar Hetzerei eingestuft wird. Aber ja, da haben die Kritiker des Textes recht: Eine Meinung zu haben bedeutet nicht, dass sich diese mit der nachweisbaren Wahrheit decken muss. Und wenn jemand aus der Tangoszene auf der einen Seite für Meinungsfreiheit eintritt, sich auf der anderen Seite jedoch bei Facebook Sorgen macht, Zitat: „dass in Deutschlands Städten bald eine migrantische Mehrheit über eine deutsche Minderheit entscheidet….und damit das Ende dieses schönen Landes wie wir es kannten und liebten noch schneller kommt als mit der Merkel-CDU“ (Zitat Ende), ist das eine Meinung, die jedoch die Meinung von im Ort lebenden Ausländern offenbar nicht zulassen will (Hintergrund: das Zitat bezieht sich auf eine Idee von Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter von der SPD, der sich dafür einsetzt, dass bei Kommunalwahlen auch Nicht-EU-Bürger ihre Stimme abgeben dürfen*). Die Möglichkeit der Teilnahme an einer Wahl innerhalb einer „Gemeinde“ ist ja immerhin auch die Möglichkeit, seiner Meinung von einem gewählten Vertreter Geltung zu verschaffen. Warum sollte man das einem Menschen verwehren? Man lebt zusammen - also wählt man auch zusammen.
Aber was hat das alles mit Tango zu tun?
Wie (un)politisch ist Tango?
Das fragt die Berliner Autorin Lea Martin in ihrer lesenswerten Replik auf Teil 1. Meine Antwort: In einer Milonga oder bei einem Tangokurs oder ähnlichem Event hat Politik nichts verloren. Tanzen sollte Genuss sein. Ablenkung vom Alltag. Ein schönes, geselliges Beisammensein. Keine zwei Meinungen!
Andererseits sollte es keine Tango-Bubble geben. Auch wenn wir Tango tanzen, bleiben wir ein Teil der Gesamtgesellschaft. Und selbst in der Tango-Blase wird Politik gemacht: Da werden viele Fragen zur Diskussion gestellt und Meinungen prallen aufeinander: Darf man Piazzolla auf einer Milonga spielen? Wie sieht es mit Neo-Tango oder gar Non Tango aus? Muss es unbedingt eine Cortina zwischen den Tandas geben? Darf man nur mit Blicken auffordern? Dürfen private Veranstalter den Profis, die teure Studios angemietet und hohe Fixkosten haben, „Konkurrenz“ machen? (Sicher, denn wir leben in einem freien Land. Und das ist auch gut so! Jeder darf sich aussuchen, welche Milonga er oder sie besuchen will oder wo Tango-Unterricht genommen wird). Aber auch hier gilt gegenseitiger Respekt. Wenn sich jemand dafür entscheidet, ein Tangostudio zu eröffnen und mit schönen Räumlichkeiten die Möglichkeit zum Tanzen schafft, geschieht das nicht aus Profitgier, sondern aus Leidenschaft. Oft wurden dafür die letzten persönlichen finanziellen Ressourcen aufgewendet, um sich eine Existenz aufzubauen. Das braucht Mut. Durch Corona stehen viele vor dem Aus, weil die Politik Maßnahmen ergriffen hat, die ein wirtschaftliches Überleben sehr schwer machen. Die Politik konfrontiert den Tango mit der Wirklichkeit. Jetzt gilt es, gemeinsam durch die Krise zu tanzen und trotzdem wachsam zu bleiben gegenüber nachweisbaren Fake News. Nicht unterschiedliche Meinungen spalten die Gesellschaft - und auch nicht die Tangoszene, sondern Behauptungen, die einer eingehenden Prüfung nicht Stand halten.
Lesetipps zum Thema Meinungsfreiheit:
Lesetipp zum Thema „Definition Begriff Politik“: Auf der Homepage vom Zentrum für Demokratie Aarau ist eine Auseinandersetzung mit dem Begriff Politik zu finden (Auszug: „Aristoteles versteht unter Politik das dem Menschen angeborene Streben nach dem Leben in der Gemeinschaft mit Freunden.“): >>Link
*Link zum im Text angesprochenen Thema kommunales Wahlrecht zu einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung: >>Link
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Foto: Shutterstock.com / Paolo Dalprato
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