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Unter dem Asphalt liegen viele Ochos in der Erde

Kapitel 2 der Interview-Reihe mit der Tänzerin Nicole Nau. Die Gespräche wurden von der Berliner Autorin Lea Martin geführt.



Chacarera mit Nicole Nau und Luis Pereyra während der Tangoshow
Chacarera mit Nicole Nau & Luis Pereyra


Lea Martin:

Dein Buch »Tanze Tango mit dem Leben« (2013) hat den Untertitel »Eine Liebesgeschichte«. Beim Lesen stellt man fest, dass es viel mehr ist.


Nicole Nau:

Der Titel Tanze Tango mit dem Leben stammt von uns. Das Buch war aber eine Auftragsarbeit für die Reihe bei Bastei-Lübbe über »Außergewöhnliche Lieben«, deshalb musste es im Untertitel Eine Liebesgeschichte heißen. Und es war ja auch eine Liebesgeschichte: zum Tango, zu Argentinien und zu Luis.


Lea M;artin:

Du beschreibst sehr eindrucksvoll, dass du in Luis den gefunden hast, mit dem du den Tango tanzen kannst, den du immer tanzen wolltest. Was bedeutet er für deinen Tango? Was ist an eurem Tango anders?


Nicole Nau:

Dazu muss ich ein bisschen ausholen. Ich habe Tango erst gehört, dann gesehen. Es war in Düsseldorf, da ist mir ein Papier am Absatz hängen geblieben, auf dem stand etwas von »Tango«. Ich bin einfach hingegangen, zu diesem Kurs oder Workshop. Der Unterrichtsraum lag hinter dem Hof. Ich ging durch das große Tor vorne und hörte die Musik. Die Musik hat mich vollkommen gepackt. Als dann die Tür aufging

— ich weiß nicht mehr, ob ich die Tür geöffnet habe oder ein Mann sie mir aufhielt —, sah ich das Bild, und mein erster Blick war tiefe Enttäuschung, weil diese Musik, die ich gehört habe, so viel tiefer war und ein so bombastisches Bild in mir ausgelöst hat, dass das, was ich gesehen habe, einfach nicht passte. Es ist nie gut, Bewegung vor der Musik zu lernen, weil dann bleibt es Bewegung. Wenn man erst die Musik hört und dann eine Bewegung kennenlernt, dann trägt Musik die Bewegung. Wir bewegen Musik. Wir machen nicht Bewegung und dazu Musik an. Das erinnert sehr an einen Supermarkt, wo auch immer Musik läuft, aber wir laufen nicht zu der Musik, sondern wir kaufen ein. Als ich damals rein ging, hatte ich das Gefühl, dass ich diese Musik will. Dann war ich auf Workshops hier, Workshops da, es fiel mir leicht, obwohl ich mit Tanz bis dahin nichts gemacht hatte. Ich habe auch andere Tänze ausprobiert, Jazz, Flamenco. Mich trieb eine stete Unzufriedenheit nach vorn, also nicht: Es ist so toll, ich mache das. Sondern: Da ist mehr, ich muss suchen, ich bin noch lange nicht angekommen. Dann war ich zu Workshops in Berlin, bei Dietrich Lange, aber nichts machte mich zufrieden. Dann habe ich die Tango-Argentino-Show gesehen und wusste: ich kann Tango nur lernen, wenn ich nach Argentinien gehe. Es war nicht leicht, in Buenos Aires Tango zu finden, weil er nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, an jeder Ecke getanzt wurde, sondern er war zu dem Zeitpunkt vollkommen verschwunden, es gab keinen Tango. Insgesamt sieben professionelle Paare waren mit Tango Argentino unterwegs, auf jedem Salon waren dieselben 20, 25 Paare, wir kannten uns auch alle. Es gab auch nichts, wo man lernen konnte. Diejenigen, die unterrichteten, wussten es eigentlich auch nicht. »Ich mach so, mach du mal nach.« Es war ein riesengroßes Loch, und dann boomte der Tango plötzlich. Wegen der Show Tango Argentino kam viel Tango-Tourismus nach Buenos Aires. Überall schossen selbsternannte Tangolehrer hoch, die ihre kleinen Philosophien gestrickt haben, aber es stimmte alles vorne und hinten nicht. Als ich Luis begegnet bin, hatte ich noch mit Ricardo getanzt, wir waren aber schon lange zerstritten, was Tanz anbetrifft, weil wir vollkommen unterschiedliche Auffassungen hatten. Wir gingen mit einer Oper in Produktion, und ich habe einen Tänzer gesucht. Auf Luis bin ich gekommen, weil er der einzige Tänzer war, von dem ich gesehen habe, dass er als Solist tanzen kann. Alle Tangotänzer, wenn sie alleine tanzen, tun so, als hielten sie eine Frau im Arm. Luis nicht. Er hat dann einfach keine Frau. Er bewegt sich allein. Dann sollte ich als Solistin mit Luis tanzen. Gerne, wunderbar, mit Kusshand. Doch er ist an mir gescheitert. Er konnte nicht mir tanzen. 


Lea Martin:

Er konnte mit dir nicht tanzen?



Luis Pereyra und Nicole Nau mit Hund entspannen in Vorbereitung auf die Tangoshow
Luis Pereyra und Nicole Nau


Nicole Nau:

Nein. Er hat gesagt: »Nicole, das, was du tanzt, das reicht nicht. Ich gehe so nicht auf die Bühne.« Ich stand schon auf Briefmarken, auf Titelseiten, ich war berühmt, aber ich habe ihn nur angeguckt und gesagt: »Du hast recht. Du sprichst genau das an, was 20 Jahre mein Gefühl ist, ich komme nicht dran. Ich scheine eine große Tänzerin und eine berühmte Person zu sein, doch ich kann das gar nicht füllen.« Er hat die Unzufriedenheit, die ich hatte, angesprochen und gesagt: »Wenn du möchtest, arbeiten wir dran.« Ich habe gesagt: »Auf jeden Fall.« Als erstes ist er nicht mit mir ins Tanzstudio, damit wir trainieren, sondern er ist mit mir durch die Stadt und das Land gefahren und hat gesagt: »Ich zeige dir, wo der Tango entstanden ist, und bin mir sicher, dass du das nicht weißt.« Dann sind wir an Orte gefahren, die habe ich noch nie gesehen. Orte wie Palermo, Dock Sud, Avellaneda, Constitución, versteckte Winkel, die weiter draußen liegen, wo früher die Rinder eingetrieben wurden, an den alten Stadtgrenzen, wo der Gaucho an die Stadt kam und, wenn er die Stadt durchbrochen hat, zum Compadre wurde. Wann wurde der Gaucho und der steppende Mann, der Milonga Sueña gespielt hat auf der Gitarre, wann wurde er ein Städter? Diese Orte dieses Wechselpunkts. Luis hat mir auch Bücher gegeben und gezeigt, wie Folklore funktioniert, getrommelt und mir vorgespielt und gesungen. Er hat gesagt, der Tango Argentino ist zwar eine urbane Folklore, aber er ist aus der argentinischen Folklore geboren. Die Immigranten aus Europa haben ihren Teil beigetragen, aber den Tango gab es schon. Der Rhythmus war schon hier, in Argentinien. Einer der faszinierendsten Momente für mich war, als Luis am Plaza Constitucion zu mir gesagt hat: »Guck mal, unter diesem Asphalt liegen viele Ochos in der Erde. Ich sehe das, weil ich die Geschichte kenne. Ich laufe durch die Stadt und sehe, dass hier Ochos liegen.«


Lea Martin:

Das ist interessant, dass ihr das Narrativ vom Tango, der von Immigranten in Buenos Aires entwickelt wurde, gegen den Strich bürstet.


Nicole Nau:

Der Tango, der von der feinen Gesellschaft übernommen wurde, hat den Tango eingebüßt. Er nimmt nur, was sich gut verkaufen lässt: schummerige Geschichten, die als Werbeslogans funktionieren. Der Tango, der ausgeliehen wurde, um exportiert zu werden, steckt aber noch überall drin. Wenn man zu den Wurzeln zurück geht, erschließt sich der ganze Rest. Auch alles Moderne. Was Tango ist und was nicht, steht in der Musik geschrieben. Dass Astor Piazzollas Musik Tango ist, kann man belegen. Ich möchte aber nicht mehr ins Detail gehen, denn das steht alles in unserem neuen Buch.



Fotos: Privatarchiv Gayk/Brando


Die weiteren 4 Kapitel des Interviews erscheinen in Kürze hier im Tangoblog von TANGO SOCIETY


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