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Man kann denkend nicht tanzen

Kapitel 5

Weiter geht es mit der Interviewreihe mit der Tänzerin Nicole Nau. Die Gespräche führte die Berliner Autorin Lea Martin.



Interview mit der Tangotänzerin Nicole Nau
Nicole Nau


»Man kann denkend nicht tanzen«


Lea Martrin:

Am besten lernt man bei Lehrern, die es schaffen, eine echte Beziehung zu ihren SchülerInnen herzustellen. Wenn Botschaften nicht richtig ankommen, stimmt meist etwas in der Lehrer-Schüler-Verbindung nicht.


Nicole Nau:

Das ist uns wichtig. Es muss Vertrauen da sein. Mir ist es hinderlich, wenn jemand im Unterricht sagt: »Mir hat man aber erklärt.« Dann sage ich: »Kinder, wir haben alle Hunger und sitzen vor dem gedeckten Tisch, und keiner isst, weil wir erklären, warum wir die drei Stunden vorher nicht haben essen können. Ich habe einen gedeckten Tisch für euch, greift zu, und dann könnt ihr gucken, ob euch das Essen bekommen ist oder nicht. Ich sehe, was ihr gelernt habt. Das müsst ihr mir nicht erklären, ihr bringt es doch mit. Ihr bringt es in eurem Körper mit. Ihr braucht hier keinen Test zu machen, es geht nicht darum, dass ich euch zeige, was ihr nicht könnt und was ich kann. Sondern es geht darum, hier heute gemeinsam anzufangen und zu schauen, dass wir mit ein bisschen mehr Wissen und Verständnis ein wenig weiterkommen.« Luis sagt immer: »Jemand, der gut ist, den musst du mehr fördern, und jemand, der nicht gut ist, den darfst du nicht überlasten.« Im Unterricht wird es häufig umgekehrt gemacht: Jemand, der gut ist, den lässt man, der kann es eh. Und jemand, der nicht gut ist, auf dem reitet man herum, bis er immer kleiner wird. Das Gegenteil muss passieren. Lass den, der es nicht kann erst einmal Vertrauen fassen. Hauptsache, er hat Freude und tanzt. Aber der, der viel Licht mitbringt, lass den nicht erlöschen. 


Lea Martin:

Du musst als Lehrer jeden einzelnen im Blick haben.


Nicole Nau:

Unbedingt. Es gibt manche, die haben etwas von Rühr mich nicht an. »Ich komme, aber bitte, ich will nicht gestört werden. Rühr mich nicht an. Ich hör zu. Oder auch nicht.« Ich finde, das muss man lassen. Wir machen ja genug vor, man sieht es ja. Du kannst alles mitnehmen, was du möchtest. Du kannst alles haben. Du hast aber auch das Recht, nichts zu nehmen. 


Lea Martin:

Gibt es mehr Rühr-mich-nicht-an in Deutschland als z. B. in Argentinien? Oder in anderen europäischen Ländern?


Nicole Nau:

In Deutschland gibt es die Neigung, erst verstehen zu wollen und dann zu machen. Man kann denkend aber nicht tanzen. Ich habe gerade einen Schüler, zu dem hat Luis gesagt: »Warum versuchst du nicht es nachzumachen, so wie Kinder das tun? Warum stehst du und guckst und möchtest verstehen und bist schon wie versteinert, weil dein Kopf es nicht versteht?« Der Schüler hat gesagt: »Das war ein wichtiger Satz für mich. Ich habe mein Kind-sein wieder ausgegraben. Als Kind konnte ich viel, einfach weil ich es gemacht habe, und als Erwachsener bin ich gedrillt, erst mal verstehen zu müssen.« Das ist es in Deutschland auffällig.


Lea Martin:

Die deutsche Angst.


Nicole Nau:

Ja. Die Angst zu versagen. Fehler zu machen. Etwas falsch zu machen. Sich zu blamieren. Du darfst ja hier schon gar nicht mehr sprechen. Ich habe in der Sendung Volle Kanne den Begriff Schwarzafrikaner verwendet, als ich über die Kolonialzeit gesprochen habe. Bei uns in Argentinien ist negro ein Kosewort. Ey, negro, como estás? Von einem Zuschauer wurde ich angemacht, dass man heutzutage im öffentlich-rechtlichen Fernsehen so was nicht mehr hören möchte. Ich habe ihm geantwortet, das kann ich mir vorstellen, aber ich spreche über eine andere Kultur, und da ist es üblich. Ich wüsste nicht, wie ich sie sonst benennen soll. Ich sollte Südsahara oder Nordsahara sagen. „Ich sage, die Menschen, über die ich spreche, kamen aber nicht aus der Sahara.“.


Lea Martin:

Ich habe die Sendung auch gesehen und an der Stelle gedacht: Interessant, dass du das jetzt so sagst.


Nicole Nau:

Farbig darfst du nicht sagen. Schwarz darfst du nicht sagen. Dunkelhäutig darfst du nicht sagen. Es ist vielmehr diskriminierend, gar nicht mehr eine Person benennen zu können. Und wenn ich in Argentinien sage: Du bist Argentinier, sagt er: Nein, Afro-Argentinier bitte. Okay, gut. Aber wir meinen nicht die Holländer, die Afrika kolonialisiert hatten. Ich meinte diejenigen, die so toll tanzen können. Das ist ein Volk, das sich rhythmisch im Laufe ihrer Jahrtausende frei getanzt hat …


Lea Martin:

Wer jetzt?


Nicole Nau:

Die Schwarzafrikaner. (Lacht.) Sie haben sich gegen ihre Ketten und Unterdrückung frei getanzt. Wenn Schwarzafrikaner tanzen, haben sie eine Bewegung, als hätten sie keine Knochen. Dieses Volk hat diesen Tanz gemacht.


Lea Martin:

Wenn ich es richtig gelesen habe, lebt ihr seit 2016 halb in Deutschland, halb in Argentinien. Wo fühlst du dich zuhause?


Nicole Nau:

Unabhängig von Einwohnermeldeamt und Steuer, würde ich sagen, mein Zuhause ist Argentinien. Da sind meine Katzen, meine Hunde, da hängen alle Bilder an der Wand, da sind die Briefe meiner Mutter. In Deutschland haben wir einen Lebensmittelpunkt, da ist unsere Künstlerwohnung und unser beruflicher Mittelpunkt der Tournee. Beim Einwohnermeldeamt bin ich an Grenzen gerasselt. Sie haben gesagt: »In Wikipedia steht, Sie wohnen in Argentinien, wie ist das jetzt mit Ihrer Meldung hier?« Ich habe geantwortet: »Wir sind über sechs Monate hier, zahlen Steuern und arbeiten. Wir haben unsere Geschäfte nach Deutschland verlegt, weil wir ansonsten große Produktionen wie Vida nicht machen können. Kein Mensch möchte einen Vertrag nach Argentinien machen. Das ist zu unsicher.«


Lea Martin:

Okay, verstehe. Aber jetzt mal abgesehen von den einwohnermeldebehördlichen Aspekten …


Nicole Nau:

Argentinien ist unser Zuhause. Da steht unser Haus, unser Studio, unsere Kompanie, unsere Kultur. Unser Leben ist Argentinien verschrieben. Aber wir sind ein halbes Jahr in Europa und dort auch zu Hause, auf den Bühnen, auf Tournee. Seit 2016 haben wir hier auch eine Künstlerwohnung.


Lea Martin:

Wie fühlst du dich innerlich? Hat sich das verändert seit dem Zeitpunkt, als du 1989 Deutschland verlassen hast, um nach Argentinien zu gehen, verglichen mit heute?


Nicole Nau:

Ich bin immer Deutsche geblieben. Das geht auch nicht weg. Das liegt so tief, wie der Geruch von den Turnhallen in meiner Kindheit. Das trage ich mein Leben lang mit. Aber ich bin inzwischen beheimatet in Argentinien und habe viele Wurzeln geschlagen, insbesondere kulturell. Mein Beruf ist ja mein Leben, ich bin 24 Stunden mit dieser Kultur beschäftigt. Ich bin in der argentinischen Kultur zuhause, die ein eine Immigrantenkultur ist. Von daher ist es gar nicht fremd, als Deutsche in Argentinien zu sein, wie es die Wolga-Deutschen, die Spanier, Italiener, Polen in Argentinien gibt, die Schwarzen, Schwarzafrikaner, die Nordsaharisten. (Lacht.) Ich bin nicht zu Besuch in Argentinien, sondern ich bin dort wirklich beheimatet, aber ich bleibe Deutsche. Ich liebe es sehr, dass wir jetzt eine dichte Verbindung nach Deutschland haben und Luis sich hier wohl fühlt, so dass es nicht mehr heißt:

»Nicole gibt alles auf und ist nur bei Luis«. Sondern jetzt ist es so, dass wir beide den Teil des anderen dazu genommen haben. Das tut uns beiden sehr gut.



Foto: Privatarchiv El Sonido de mi Tierra


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