top of page

Tanzen im Supermarkt

Mit "Um hinter jemanden her zu tanzen, gehe ich in den Supermarkt" veröffentlichen wir das 6. und letzte Kapitel der Interview-Reihe mit der Tänzerin Nicole Nau. Die Gespräche hat die Berliner Autorin Lea Martin geführt:



Tangotänzerin Nicole Nau und Tänzer Luis Pereyra während einer Tangoshow
Nicole Nau & Luis Pereyra

»Um hinter jemandem her zu tanzen, gehe ich in den Supermarkt.«


Lea Martin:

Wenn ihr in Deutschland seid, was macht ihr hier? Wo kann man euch, neben der Vida-Show, mit der ihr im Jahr 2024 auf Tournee geht, erleben?


Nicole Nau: Wir bieten viele Workshops in Deutschland an, in Wuppertal, Frankfurt/Oder, Neustrelitz und München. Aber wir sind keine Workshop-Hopper. Uns liegt daran, dieselben Teilnehmer auszubilden, sie weiterzuführen, in Gruppen, zu denen Neue jederzeit dazu stoßen können. Mir ist es wichtig, wenn du kommst, dass ich dich wiedersehe und dein Tänzerleben eine Zeit lang betreue, bis du sagst, ich bin satt. Wenn sich einige Leute zusammentun, kommen wir zu euch. Wenn ihr euch nicht zusammentut, musst du zu mir. Neben den Workshops bieten wir das Masserberg-Seminar für »Freunde der argentinischen Kultur« an, das weit über den Tango hinaus geht. Wir erzählen von Argentinien, machen Musikkurse, trommeln gemeinsam argentinische Rhythmen, bieten argentinische Folklore, also zum Beispiel Gato, Zamba und Chacarera an. Über zehn Tage kann man in Argentinien eintauchen. Wir bieten auch Reisen in Argentinien an. 


Lea Martin:

Ihr seid keine Workshop-Hopper, was meinst du damit?


Nicole Nau

Dass Tango-Workshops Titel kriegen, verkauft sich zwar leichter, funktioniert aber nicht. Für viele Bewegungsabläufe brauchst du einen guten Ocho. Wenn der nicht da ist, können wir nicht weiter. Ein gut getanzter Ocho ist kein »I«, sondern eine Acht. Der Ocho ist ja mal entstanden, wie eine Schlaufe, weil der Mann nicht weitergelaufen ist, stattdessen der Frau die Musik übergeben hat. Da ist nicht jemand gekommen und hat gesagt, ich erfinde jetzt mal die Acht. Vor allen Dingen ist ein Ocho kein »I«. Kein »Schritt, Füße schließen, umdrehen, Schritt, Füße schließen, umdrehen.« In einem „I“ ist kein Raum drin. Tanz braucht Raum. Alles ist rund. Die Körper, die Umarmung, die musikalische Welle, der Salon, alles. Das geradlinige Tanzen passt nicht in einen runden Salon. Wenn man nicht in alle Richtungen tanzen kann, kommt man im Salon nicht weiter. Was machen die Deutschen? Sie machen Regeln. »Du musst hinter dem Hintermann her tanzen.« Dazu gehe ich in den Supermarkt und stelle mich an die Schlange. Das ist kein freies Tanzen, das ist kein Volkstanz. Die müssten mal sehen, wie so ein Salon sich bewegt hat in den 1940er Jahren, als Tausende von Leuten auf einer Tanzfläche waren. Das war wie ein Ameisenhaufen, und trotzdem hat niemand niemanden tot getreten. Die kamen klar. Wenn du einen guten Ocho kannst, dann geht auch eine Drehung, gehen auch Ganchos. Aber wenn du eine Linie hast, kommt der Mann nirgendwo in den Beinraum und das Paar braucht wahnsinnig viel Platz.  Viele Schüler erzählen, sie lernen den Giro als Viereck um einen Stuhl. Aber ein Viereck ist nicht rund, kann also auch niemals eine Drehung werden.


Lea Martin:

Um einen Stuhl habe ich den Ocho nicht gelernt. Dafür sehr verkopft, mit Dissoziation und Achse, um die die Hüften frei schwingen sollten. Ich habe dann erst mal unterbrochen.


Niocole Nau: Das ist ein Sezieren von Bewegung. Ich verstehe es gut. Das geht nicht. Eine Taille öffnet Räume. Die Taille darf sich aber nicht drehen wie ein ausgewrungenes Tuch. Wir haben dann Ochos als Kurs angeboten. Doch in diesen Kurs ist niemand gegangen. Die kennen sie schon. Doch kannst Du das auch wirklich tanzen? Ochos hat jeder schon mal gemacht. Aber Ochos tanzen zu können, ist eine Angelegenheit von Jahren. Jetzt machen wir einfach Kurse ohne Titel, und ich frage: »Was möchtet ihr heute gerne machen?« - um anhand eines Beispiels Konzepte zu unterrichten.  Neulich hat jemand sehr süß gesagt: »Ich wünsche mir gar nichts mehr. Ihr seht sowieso am besten, was wir brauchen.«


Lea Martin: In einem Interview hast du gesagt, ein Tango, dem die Basis fehlt, sei, wie falsche Klunkern am Hals zu tragen.


Nicole Nau: Genau so ist es. Wenn man beispielsweise klassisches Ballett macht, gibt es die Routine, dass alle Elemente ständig praktiziert werden. Das Tendu zum Warmmachen, das Plié, die Pirouette. Und dann siehst du: Oh, der erste fällt um, der zweite auch, der dritte macht zwei, der fünfte kann eine, der sechste fällt wieder um, der siebte springt in der Mitte hoch, um nicht umzufallen. Jeder hat sein eigenes Niveau. Ich sage doch nicht, weil mir einmal eine Pirouette erklärt wurde: »Kann ich schon.« Ich muss in der Pirouette meinen Körper in Musik beherrschen, ich muss damit umgehen können. Aber dafür braucht es ein umfassendes Wissen von diesem Tanz, damit man Menschen Begeisterung für das Tanzen zeigt und sie nicht lehrt, falsche Klunkern anzulegen.


Lea Martin: Begeisterung für das Tanzen zu zeigen, weshalb ist das wichtig?


Nicole Nau: Woran der Tango Argentino heute am meisten leidet, ist, dass er keinen Tanz mehr hat. Er wird ja nicht mehr getanzt.


Lea Martin: Sondern?


Nicole Nau: Die Basis des Tango ist das caminar, das natürliche Gehen. El tango se camina. Der Tango wird gegangen. Aber el caminar, das Gehen, wird getanzt. Man muss das Gehen tanzen. Ich habe das Gefühl, dass dieses Gehen abgearbeitet wird, auf Vierecke gelegt, vorwärts, rückwärts. Dieses Gehen wird unterteilt in drei Teile: Schritt, Schließen, Schritt. Das ist kein Tanz. Das ist das Abarbeiten einer Bewegung. Daran krankt der Tango im Moment sehr, dass er nicht getanzt wird. Es mangelt dem Tango an Tanz. Es mangelt ihm daran, dass Menschen sich treffen, um zu tanzen. Luis sagt, er geht auf keinen Salon. Er findet: »Der Grund, das Motiv, warum die Leute hingehen, ist ein anderer, es geht nicht um Tanz.« Es reicht nicht, dass wir sagen, das ist die baldosa, Punkt. Wir müssen eine baldosa auch tanzen können, wir müssen überall hinkönnen. Wenn die Menschen das lernen würden, käme jeder überall hin mit seinem Schritt. Dann könnte er sich frei bewegen. Aber so weit kommen viele nicht. Teilweise siehst du in Schulen, dass in einer Woche der Ocho angeboten wird. Du kannst — egal, an welchem Tag — kommen und lernst immer den Ocho. Nach dieser Woche ist er dann abgehakt. Sicherlich lernst Du ihn an dem Tag aber nicht tanzen. Nicht, weil du dich dusselig anstellst. Und dann? Hast du nächste Woche Sandwich. »Aber ich kann den Ocho noch nicht tanzen – und das Sandwich braucht den Ocho vor und den zurück.« »Macht nichts. Nächste Woche Sandwich.« Du kannst, egal in welchen Kurs, kommen und dein Sandwich abarbeiten. In Argentinien, wenn du Folklore lernst, ist es so, dass du in der Schule ein ganzes Jahr nur den Grundschritt lernst. Nicht, weil sie zu blöd wären, den Grundschritt zu lernen, sondern weil sie ihn zu tanzen lernen. Kennen und können sind zweierlei Paar Schuhe. Wenn du deinen Grundschritt hast, verlierst du ihn nie wieder, Treppen rauf, Treppen runter, zur Toilette, überall, du musst ihn so haben, dass du ihn lebst, geniesst, egal, was du machst, nicht verlierst, egal wie kompliziert die Musik wird, dann kannst du auch alles andere machen. Aber nein, in Deutschland kommt man auf die Idee, dass es einen Grundschritt nicht braucht. Könntest Du Dir das für den Walzer vorstellen?


Lea Martin:

Entschuldige, wenn ich lache …


Nicole Nau: Du kannst gerne lachen.


Lea Martin:

Ich freue mich sehr, durch dich zu verstehen, warum ich vieles im Tango nicht so schnell verstanden habe, wie es gezeigt wurde.


Nicole Nau: Weil du ein Mensch bist, der nicht nur verstehen, sondern begreifen und erfahren möchte. Es nützt nichts, Tango zu verstehen. Ich sehe Paare, die sich brav darum kümmern, ihre Füße zu schließen. Das hat weder mit der Musik noch mit dem Partner zu tun. Es ist einfach eine Aufgabe, die sie erfüllen. Das meine ich mit dem Abarbeiten. Wenn wir eine Musik tanzen, haben wir einen Klang, einen Ton. Ein Ton hat ein T, ein O und ein N. Manchmal ist TOON länger, manchmal ist es TONN. Den Fuß setzen wir erst im Nachklang auf. Viel wird jedoch unterrichtet, beim ersten Moment des Tons zu stehen. So wird die Bewegung erschlagen, sie ist tot, man steht auf der Musik, statt sie fortzutragen, und du musst mit jedem Schritt noch mal neu anfangen. Wenn wir tanzen, nehmen wir die Musik auf und tragen sie weiter. Wir müssen sie weitertragen, nicht hinstellen, wie bei diesem antrainierten Schließen. Der Fuß muss zwar an dem anderen vorbei, gehört aber auf den nächsten Bogen. Er gehört nicht zu mir, zum anderen Fuß. Er ist in Kommunikation mit dem Partner und der Musik — nicht mit mir. Das Schließen ist kein Schließen, sondern ein am Fuss vorbei und kommt automatisch, aber erst, wenn es wieder los geht, nicht im Ankommen. Wir machen im Tango Argentino ganze Schritte, keine zwei halben. Ein Schritt beginnt, wenn der Fuss sich am Boden löst und endet, wenn der Fuss wieder aufsetzt. Du kannst dann in Bewegung auf die Musik warten. Also gerade nicht einen Zwischenstop einlegen, sonst habe ich einen toten Punkt.


Lea Martin: Wie erklärst du dir diese Entwicklung, dass der Tango, wie du sagst, nicht mehr getanzt wird?


Nicole Nau: Die bahnbrechende Show »Tango Argentino«, in der Luis seit Ende der 1980er Jahre zehn Jahre lang getanzt hat, ist der Grund, warum wir alle heute Tango machen.

Diese Show hat den Boom losgetreten. Luis sagt, das war ein Segen für den Tango Argentino einerseits, und ein Fluch andererseits. Weil dieser Boom auch dafür gesorgt hat, dass aus allen Ecken alle möglichen Quacksalber kamen und viel Schindluder getrieben wird. Eine Weltmeisterschaft tut einem Volkstanz nicht gut, weil man letztendlich Regeln tanzt. Das kennen wir aus dem ADTV. Man muss Regeln erfüllen, und das heißt, du nimmst das weg, was das Volk an natürlicher Freiheit hatte. Du stellst Regeln auf, die wenig tänzerisch sind, wenig Kunst. Du musst sie ja bewerten können. Du musst das und das erfüllen, sonst wirst du disqualifiziert. Luis und ich, wir sind keine Tanzlehrer, das betone ich, wir sind Künstler, Tänzer, Profis, die Kunst und Kultur eines Volkes auf die Bühne bringen.

Es ist auch nicht unser Tango. Wir tragen fort, wie es einst war. Alle unsere Kunst, unser Wissen über dieses gesamte Volk können wir weitergeben. Ein Wettbewerb kann ein schöner Ansporn sein, um sich mit Tanz zu beschäftigen und besser zu werden, aber wenn er das Nonplusultra wird, hast du den Tango Argentino abgekoppelt von dem, was er war. Wir haben gemerkt, das ist eine Lawine, die rollt, und müssen gucken, dass sie nicht über uns hinweg rollt. Deswegen gehen wir in Nischen, ein bisschen abseits der Berühmtheit, weil wir das Gefühl haben, dieser Schnee erstickt uns. Wir stehen auf dem Weg zwischen der Wurzel des Tangos und unseren Schülern, als Vermittler, die zu einem Zugang verhelfen. Der Tango gehört Luis und mir nicht, aber wir sind ein Teil von ihm und tragen ihn ein Stückchen weiter. Nehmt, was ihr braucht, was ihr nicht braucht, nehmt nicht. Macht aus dem, wie es einst war bitte euren eigenen Tango. Das finde ich die wichtigste Nachricht, dass diese Freiheit wieder da ist, für alle. Tango ist frei. Es ist ein freier Tanz.



Foto: Arndt Gockisch


6 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page