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Tango ist ein Freiheitstanz

Kapitel 4 der Interview-Reihe mit der Tänzerin Nicole Nau. Die Gespräche führte die Berliner Autorin Lea Martin.



Tangoshow Vida! mit Nicole Nau und Luis Pereyra
Nicole Nau & Luis Pereyra


"Tango ist ein Freiheitstanz, ein rebellischer Tanz"


Lea Martin:

Du hast einen unglaublichen Pioniergeist. Dass du nach Argentinien fliegst, um den Tango zu finden, und als er nicht da ist, gibst du nicht etwa auf, sondern trägst dazu bei, dass er wieder auferstanden ist. Jetzt leistet ihr wieder Pionierarbeit. Wie würdest du beschreiben, was ihr tut? Erfindet ihr den Tango neu, oder findet ihr seine Wurzeln?


Nicole Nau:

Ich würde das nicht so beschreiben, dass wir den Tango neu finden. Den Tango gibt es längst. Es ist ein solches Dickicht um die Wurzel des Tangos gewachsen, dass man die Ursprungspflanze nicht mehr sieht. Wir finden Wege, die sie wieder befreien, und gehen immer wieder zurück, um von da aus noch mal zu starten. Luis hat diese Wurzel nie verloren. Aber er sagt, es ist konfus, was inzwischen über Tango erzählt wird. Ich nehme das Wort »Tango« deshalb auch aus meinen Shows raus, sie heißt nur einfach »Vida«, weil das Wort »Tango« auch abschreckend ist für viele. Es kann alles bedeuten und nichts. Jemand hat mal über uns gesagt, wir gingen back to the roots. Das könnte es sein. Weil in den Wurzeln der Anfang von allem ist. Wenn du sie kennst, wirst du frei, kannst neu wachsen. Du wirst einen ganz anderen Tango tanzen als ich, und das wünsche ich allen Frauen. Wir sind keine Klone. Das ist das Faszinierende: dass jede Person ihr Eigenes mitbringt. Wir bringen sie nur in Verbindung mit dem Tango und nicht mit einem Bild von Tango, das erfüllt werden muss. Tango ist etwas ganz Anderes. Das ist ein Freiheitstanz, ein rebellischer Tanz gewesen, der von Schwarzen getanzt wurde, von Gauchos, Indigenen, gestrandeten Personen. Die haben sich gegen etwas aufgelehnt, haben sich gegen etwas gewehrt. Diesen Menschen zolle ich heute mit meinem Tanz Respekt. 


Lea Martin:

Tango ist also nicht nur getanzte Wehmut?


Nicole Nau:

Nein, um Himmels Willen. Das ist doch keine Wehmut.


Lea Martin:

Es wird häufig gesagt, Tango sei getanzte Wehmut oder ein trauriger Gedanke, der getanzt wird.


Nicole Nau:

Enrique Santos Discepolo hat das gesagt. Ein großartiger Poet. Aber er war kein Tänzer, auch kein Musiker. Und Tanz beginnt in Musik. Wir tanzen keine Poesie, keine Gedanken. Wir tanzen Musik. Ohne Musik gibt es keinen Tanz. Jemand, der traurig ist, zieht sich zurück. Oder er tanzt und verlässt damit die Traurigkeit. Ich tanze jetzt, ich mache jetzt was daraus, ich bewege mich, verändere dadurch etwas. Das Erste, was wir machen können, wenn wir ein Problem haben, ist ja, es zu bewegen. Abends auszugehen und sich an die Schulter eines Mannes zu hängen, ist damit nicht gemeint. Die Einsamkeit, die Männer erleben, wenn eine Frau sich einfach an deren Schulter hängt, ist trist. Der Mann tanzt dann allein, mit einer Last. Oder er kuschelt. Im Unterricht hat mal jemand gefragt: »Was mache ich, wenn eine Frau sich von mir betanzen lässt?« Ich habe gesagt: »Mädels, hört gut hin. Männer brauchen ein Gegenüber. Sie brauchen jemanden, der mit ihnen zusammen tanzt. Jemanden, der ihren Tanz ergänzt. Wir müssen ein Paar werden. Nicht einer wird geklont, einer wird kopiert, einen gibt es zweimal, einer ist dann unterwegs mit seinem Spiegelbild. Zu denken, die Männer seien das angebende Zepter, das reicht nicht.«


Lea Martin:

Man sagt, it takes two to tango.


Nicole Nau:

Auch It takes two to tango reicht nicht. It takes three. Es braucht ja auch die Musik. Wir sind immer zu dritt. Es braucht drei zum Tangotanzen. Für Luis ist es: die Frau, die Musik und er. Letztendlich begleitet er seine eigene Führung. Tango beginnt im Anderen, und die Musik ist das verbindende Element, damit wir zusammenkommen. Wir zwei kommen gerade zusammen, weil es ein Gespräch gibt. Ansonsten hätten wir miteinander nichts zu tun. Es braucht ein Kommunikationsthema. Es braucht immer drei. Der Tango Argentino ist auch kein Tanz, den man im Wohnzimmer tanzt. Manche sagen, es ist eine getanzte Einsamkeit von zwei Personen und also etwas, was man im Hinterzimmer machen kann. Spätestens die Pandemie hat uns gelehrt, dass es so nicht ist. Es gibt kaum Paare, die die Pandemie durchgetanzt haben. Und wenn, dann nur mit einer großen Disziplin.


Lea Martin:

Ihr habt in euren Shows eine Kompanie an Tanzpaaren. Ich würde gern verstehen, wie du, wenn du Tangomusik hörst, sie mit Bildern füllst, mit Choreografien.


Nicole Nau:

Der Tango braucht die Gesellschaft, es ist ein Gesellschaftstanz. Nicht wie im ADTV, sondern er braucht das Volk. Er braucht den, der zuguckt. Den, mit dem ich mich messen kann. Er braucht denjenigen, der mir auf der Tanzfläche einen Impuls gibt, und sei es dadurch, dass er im Weg steht. Wunderbarer Impuls, wenn ein Paar im Weg steht. Denn dann müssen wir improvisieren, neue Wege finden. Der Tango braucht dieses Miteinander. Er braucht auch, dass ein Paar neben mir großartig tanzt, weil das anspornend ist. Wenn alle Paare mit der Musikstruktur verbunden sind, brodelt es zur gleichen Zeit, es wird ruhiger zur gleichen Zeit, und alle stehen fast still zur gleichen Zeit. Dennoch wird ein Paar den compás nehmen, ein Paar nimmt die Melodie, ein Paar geht, das andere Paar dreht, das eine tanzt die Ochos, das nächste steht hauptsächlich rum, weil sie es schön finden, so zu stehen. Das ist Freiheit. Wenn wir unsere Choreografien machen, tanzen nicht alle das gleiche, aber wir tanzen dasselbe Werk, vielleicht gar die gleiche Choreografie. Jedes Paar umarmt sich anders, tanzt anders, interpretiert anders, obwohl sie das Gleiche tanzen. Eine Frau hat eine hervorragende Beinarbeit und ist fast elektrisch. Einer ist ein Gemütlicher, das sieht man seinem Tanz auch an. Wir haben jemand, der kocht über, einen, der ist wie ein Sonnenschein, und einen, der misst sich mit sich selbst. Eine Frau ist sehr mädchenhaft, eine andere fast ein Vamp. Diese verschiedenen Charaktere, das ist, als hätten wir ein Volk auf der Bühne. Bei der Erarbeitung der Choreografien haben wir eine klare Rollenverteilung. Luis sucht die Musik aus. Wenn er ein Stück wählt, spielt er es, mal am Abend, mal beim Training, und an meiner Reaktion merkt er, ob es mir gefällt oder nicht. Ob ich sage: »Oh, komm, lass uns tanzen.« Oder ob ich weiterschreibe oder spülen gehe. Erst, wenn er spürt, dass es mich packt, sagt er: »Hör mal.« Ich sage: »Ja, das hast du in der letzten Zeit öfter gespielt.« »Wie findest du das?« Und dann erzähle ich ihm — ich bin die Visuelle — von meinem Bild, das ich sehe und wir fangen an, das Stück einzukleiden und in Szene zu setzen. Wir fragen uns: Woran erinnert uns das? Wo findet es statt? Ist das ein Lauf über die Wiese? Oder auf Kopfsteinpflaster? Geht es über die trockene Pampa? Ist das in einem eleganten Salon?


Lea Martin:

Die Art, wie ihr die Musik auswählt, klingt, als würdet ihr Tango tanzen.


Nicole Nau:

Ja. Unser ganzes Leben ist ein Miteinander. Luis kocht gern. Dann ist es für mich selbstverständlich, dass ich spüle. Nicht: »Du kochst, und du spülst, und wenn du schon die Küche dreckig gemacht hast, bringst du auch noch den Müll raus.« Im Gegenteil. Er kocht mit solch einer Liebe für uns, da möchte ich im Dank die Küche für ihn so sauber hinterlassen, dass er gerne wieder kocht. Es gibt Themen, da ist er einfach besser. Das ist Musik. Und ich habe dieses sehr Visuelle. Und bin auch diejenige, die sehr gut unterrichten kann. Ich schaffe es, Brücken zu bauen und mir vorzustellen, was in dir los ist. Das fühle ich einfach und kann dich da abholen. Luis ist derjenige, der fast wie an der Uni das pure Wissen mitbringt und sagt: »So ist es. Friss oder stirb.« (Lacht.) Wenn ich unterrichte, nehme ich ihn manchmal mit und finde schön, wenn er mir von draußen sagt: »Vorsicht, die hauen dir ab, du verlierst sie, fisch sie mal wieder auf.« Oder: »Sie missverstehen dich gerade.« Es steckt viel Fehlinformation in den Leuten. Wenn man zu nachgiebig ist, wird aus argentinischem Tango ein luschiger Schieber oder ein preußisch exerzierter Marsch. Aber argentinische Musik möchte als solche getanzt werden. Zum Beispiel. (Sie steht auf.) Jemand sagt: »Ich habe gehört, dass man die Füße strecken soll. Und jetzt merke ich immer, dass es stockt.« Ich sage: »Das kann sein, dass der Fuß gestreckt sein soll, aber viel wichtiger ist, dass er abrollt und insbesondere darf er nicht entgegen der Richtung abrollen.« Oft sind Informationen unvollständig, weil nur Teile oder Bruchteile unterrichtet werden. Auch die Sprache stimmt manchmal nicht. Jeder, der normal geht, rollt ab. Wer aus dem Tangounterricht kommt, hat das Abrollen aber verlernt. Warum? Wenn Tango doch das natürliche Gehen sein soll?



Foto: Gayk


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