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Die Struktur des Tango Argentino

Mit fünf Jahren hat der argentinische Tango-Weltstar Luis Pereyra angefangen zu tanzen, mit zehn Jahren stand er zum ersten Mal auf der Bühne. Die aus Düsseldorf stammende Tango-Künstlerin Nicole Nau hat es in ihrer Tango-Karriere in Buenos Aires auf zwei argentinische Briefmarken geschafft. Als Künstler- und Ehepaar vermitteln sie in ihren Shows ebenso wie in ihren Angeboten für Tango-SchülerInnen einen Tango, dessen Wurzeln in der Folklore liegen.



Tango, Folklore und Volkstanz mit Nicole Nau & Luis Pereyra
Nicole Nau & Luis Pereyra


Kapitel 1:


»Die Struktur des Tango Argentino ist aus Volkstänzen entstanden«

Das Interview mit Nicole Nau wurde geführt von Lea Martin, Berlin


Lea Martin: Ihr habt zusammen ein neues Buch geschrieben, das noch unveröffentlicht ist. Worum geht es darin?


Nicole Nau: Das Buch wird in den nächsten Jahren erscheinen. Noch möchte ich darüber nicht sprechen. Es gibt eine eigene argentinische Geschichte, die verschüttet wurde, weil ja immer der Gewinner die Geschichte schreibt, nie der Verlierer. Uns ist wichtig, diese Geschichte auszugraben und weiterzutragen, weil das einen ganz anderen Blick auf den Tango Argentino gibt. Wir haben das Buch während der Pandemie geschrieben und sind im Moment auf der Suche nach einem Verlag.


Lea Martin: Ihr habt das Buch zu zweit geschrieben, wie kann ich mir das vorstellen?


Nicole Nau: Es war ein sehr langer Prozess. Luis sagt, es ist ein lebenslanger Prozess. In der Pandemie hatten wir Zeit. Argentinien war acht Monate lang geschlossen. Wir durften nicht auf die Straße und niemanden besuchen. Erst habe ich angefangen, allein zu schreiben, doch daraus wurde nichts. Dann habe ich Fragen für Luis formuliert. Er hat seine Antworten auf ein Gerät gesprochen, und wir haben die transskribierten Texte in das Buch übernommen. Dadurch bekommt es seine Stimme. Luis spricht, er erzählt. Das ist sehr eindrücklich, denn er ist eine sehr intensive Person, sehr sinnlich in seiner Wahrnehmung und sehr klar im Ausdruck. Wer ihn kennt oder über ihn gelesen hat, weiß, dass er indigene Wurzeln hat, das merkt man ihm sehr an. Er hat eine andere Weise, sich in der Welt zu bewegen, als wir hochzivilisierten Menschen, und kann Stimmungen wahrnehmen, Vorahnungen ernst nehmen. Diese Dinge hat er nicht verlernt, die hat sein Volk in sich. Seine Großmutter war Indianerin, das merkt man ihm an, dieses Spüren-können, weit über das hinaus, was ich — und ich nehme sehr viel wahr — wahrnehmen könnte.


Lea Martin: Wenn ich es richtig verstehe, macht ihr einen Tango, der sich nicht aus dem  späteren Salon-Tango, sondern aus der zuvor liegenden Tradition der Folklore speist, die jenseits der Städte gelebt wurde. In dir hat Luis jemanden gefunden, mit der er diese Wurzeln in die Zukunft werfen kann, mithilfe eurer Kunst.


Nicole Nau: Ja, das ist ein Geschenk des Himmels. Er sagt, er sei sein Leben lang verzweifelt gewesen, weil er diese Wahrheit über den Tango, die aus anderen Völkern stammt — ich nenne es nicht nur »Wissen«, weil es nicht angelernt ist — nirgendwo loswerden konnte, und dann kommt eine Frau aus Deutschland, und hört ihm zu. Es ist für uns beide ein Geschenk des Himmels. Ich habe zwanzig Jahre lang diesen anderen Tango gemacht und blieb immer hinter der Musik, unzufrieden. Ich hatte das Gefühl, ich erreiche ihn nur wie durch eine Glasscheibe. Du kannst reingucken und stehst trotzdem draußen. Ich habe es nie geschafft zu sagen, es wird echt für mich. Und dann bin ich auf Luis gestoßen und habe mitbekommen, dass er die Musik vollkommen anders aufnimmt, nämlich aus den alten Wurzeln, aus denen sie entstanden ist, und plötzlich hat sich alles erschlossen, alle Türen haben sich geöffnet.



Tango und Folklore mit Nicole Nau & Luis Pereyra
Nicole Nau & Luis Pereyra


Lea Martin: Kannst du beschreiben, was das bedeutet, »er nimmt Musik anders auf«? Die Musik ist ja erst mal die gleiche, wenn man sie hört.


Nicole Nau: Die Musik ist immer die gleiche, genau. Aber die Musik von schwarzen Völkern ist sehr rhythmisch und synkopisch. Daher hat der Tango Argentino eine Struktur, die unter dem liegt, was Europäer zu hören gewohnt sind. Wenn du diese Struktur aber kennst, hörst du sie in jedem Tango. Im Walzer oder — wie wir sagen — Vals, ist es ganz deutlich 1, 2, 3. Im Tango Argentino ist es Oummmm, pa, oder Oummmmm, pa, pá, pa. Je nachdem ob du einen 2/4- oder einen 4/8-Takt hast. Auf dieser Struktur baut sich der Tango Argentino auf. Es gibt die Synkopen, die Melodieen, den Rhythmus, aber die Struktur liegt immer darunter. Anhand dieser Struktur ist der Tanz aufgebaut, und auch jeder Einsatz von Instrument und Stimme. Das ist der Unterbau, wie das Fundament bei einem Haus. Es gibt Melodien, die sich scheinbar lösen, aber die Musiker spielen immer wieder zurück in diese Struktur. Erst wenn ein Sänger in dieser Struktur singt, findet er die Freiheit zu phrasieren. Wenn man über den compás spricht, wird leider meist eine Art von Metronom assoziiert: tick, tick, tick, tick. Das hat mit oummmm - pa nichts zu tun. Es ist eine andere Zeitverteilung, eine andere Markierung, schlichtweg kein Tango. Dann kommen Bewegungsstrukturen zu Stande, die nach Cha-cha-cha und Salsa aussehen. Das zieht sich anders, schiebt sich anders. Wenn man sich an ein Metronom hängt, ist man spätestens nach sechs Taktschlägen komplett neben der Musik, auch wenn man sie irgendwann wieder trifft. Das ist wie eine Uhr, die stehen bleibt. Zweimal am Tag geht sie richtig, denn zweimal am Tag ist es zum Beispiel zwölf Uhr. Den konsequenten Tangorhythmus zu behalten, der die Musik trägt, führt dazu, dass man frei wird. Weil man einen Halt hat. Man verliert sich nicht in einer Melodie, die mit einem Klavierbogen verschwindet, sondern lernt, durch die verschiedenen Schichten der Musik hindurch zu hören. Wenn man die Musikstrukturen kennt, kann man komplett anders tanzen. Dann ergibt sich auch die Führung, weil klar ist, dass ein Einsatz den ganzen Rest trägt. In beider Ohren ist klar, wann beginnt es, wann ist der Bogen zu Ende. Die Musikstruktur des Tango Argentino ist aus argentinischen Folkloretänzen entstanden, aus Volkstänzen. Sie pulsiert nach unten. Ein Volkstanz muss etwas haben, das alle verbindet. Es kann nicht sein, dass ein Mann tanzt, was nur er hört oder gar fühlt, und die Frau muss hören, was er hört. Dann tanzten Frauen ja taub und blind, fremdbestimmt. Sie müssten erahnen, was er macht. Ich höre von vielen Frauen, dass sie sagen, ich höre die Musik ganz anders als er. Das kann eigentlich nicht sein, denn die Musik hat eine Struktur, die ist immer gleich. Wir haben einen gemeinsamen Einsatz und ein gemeinsames Ende. Diese Markierung trägt das Paar. Diese Markierung kann und muss ich als Frau sicher forttragen. Er kann und wird die Reise natürlich variieren, mich mitnehmen, um zu variieren: »Komm, wir gehen auf einen Ausflug, ich zeige dir was.« Aber immer wieder geht das Paar zurück in die Markierung. Die Frau muss wissen, von wo aus sie musikalisch startet, von wo fahren wir weg, wohin, was machen wir, was schauen wir uns an, wohin kehren wir zurück. Sie muss eingeladen sein. Wenn ich aber die Struktur nicht kenne und versuche, aus einer Schicht von im schlimmsten Fall 14 Instrumenten — wenn es ein ganzes Orchester ist, mitzukriegen, wo er jetzt vielleicht gerade unterwegs ist, das erschließt sich meinem Ohr nicht. Wenn ich die Musikstruktur aber mitbringe, ist das so etwas wie ein kleiner GPS, oder der Sonnenstand am Himmel, auf dem das Paar ruht, sich verlassen kann. Hier setzen ja auch alle Instrumente ein. 


Lea Martin: Dann führst du ihn?


Nicole Nau: Nein, ich führe nicht, ich trage das Paar musikalisch. Es ist eine feine nuancierte Arbeit, Musik nicht zu stehen, sondern sie zu bewegen. Musik zählt sich, auch wenn du sie nicht zählst. Wer ein gutes Rhythmusgefühl hat, der fühlt, hier fängt sie an, hier ist sie zu Ende. Das sind Zahlstrecken. Im Tango ist die Struktur binär. Der Sechs-Achtel-Takt ist der Takt unserer Folklore. Er gruppiert sich in zwei Dreiergruppen. Die Folklore Argentiniens ist also auch binär. In den meisten Milongas nimmt die Gitarre den Sechs-Achtel-Takt und spiegelt sie in den Zwei-Viertel-Takt der Milonga.


Lea Martin: Jetzt hast du gesagt »von unserer Folklore«.


Nicole Nau: Ja. Von der argentinischen. Immer Argentinien.


Lea Martin: Vielleicht ist ja ein wichtiges Thema für die Art, wie Tango in Deutschland getanzt wird, dass es keine deutsche Folklore gibt.


Nicole Nau: Mit Sicherheit. Es gibt keinen Zugang mehr.


Lea Martin: Es gibt die Tradition, in Konzerthäusern zu sitzen und der Musik zuzuhören, aber es gibt nicht diese Tradition des Tanzens.


Nicole Nau: Nein, das gibt es nicht. Es gibt nur das Tanzfest, als abgeschlossene Tanzveranstaltung. In Argentinien — aber ich könnte auch jedes andere südamerikanische Land nehmen und vielleicht sogar die Vereinigten Staaten —, wenn ein Fest ist, schieben sie den Tisch zur Seite und tanzen. Das könntest du dir hier, wenn du zum Abendessen eingeladen bist, gar nicht vorstellen, dass du plötzlich aufspringst und tanzt.


Lea Martin: Hier gibt es dafür diese Partys, wo man isst und trinkt und nach einer Stunde vom Smalltalk erschöpft ist.


Nicole Nau: Mir ist das langweilig. Da stellt übrigens die deutsche Botschaft eine tolle Ausnahme dar. Der Botschafter rief uns an und sagte: »Wir möchten uns nach vier Jahren von Argentinien mit argentinischer Folklore verabschieden und Sie einladen. Ich möchte aber nicht, dass Sie vortanzen, sondern ich möchte, dass die Botschaft tanzt.« Wir haben also einen Folklore-Workshop mit den Gästen gemacht, und manche Argentinier haben sich bedankt, dass wir sie in ihre Kultur eingeführt haben. Manche Gesellschaftsschichten kennen das nicht. Das liegt mir am Herzen, an diese verdorrte Wurzel etwas Erde zu geben und sie wieder zu pflegen und nicht immer nur Blumen abzuschneiden und wegzutragen. Schnittblumen verwelken rasch.



Fotos: Privatarchiv El Sonido de mi Tierra


Die weiteren 5 Kapitel des Interviews erscheinen in Kürze hier im Tangoblog von TANGO SOCIETY


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