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AutorenbildLiane Schieferstein

Logbuch: Lalotango und das Cielo in Stuttgart

Tanz in die Zukunft, Teil 7. In unserer Reihe "Tanz in die Zukunft" stellen wir Tango-Professionals und ihre Pläne für die Zukunft vor. Wie sind sie durch die Krise gekommen? Was planen sie für den Re-Start und die Zeit danach? Liane Schieferstein berichtet über das Lalotango und das Cielo in Stuttgart:


Tanzsaal CIELO in Stuttgart: Der Tango muss gerettet werden!
Dieser schöne Raum geht dem Tango verloren….

Tanzen bis zum Untergang


Wir haben den Tango fast bis zur letzten Sekunde ausgekostet! Am Wochenende vor dem Lockdown im März 2020 gab es noch Live-Musik im CIELO. Zwei Pianistinnen spielten vierhändig, voller Energie und Spielfreude. Das Klavier stand mitten im Raum, die Tänzerinnen und Tänzer tanzten außen herum. Es war heiß und es war gut! Während sich „draußen“ schon das Corona-Ungemach zusammenbraute, waren wir selig. Niemand wollte den Abend zu Ende gehen lassen. Als hätten wir schon eine Ahnung gehabt, daß es lange, lange dauern würde, bis wir wieder Umarmungen genießen würden…


Schockstarre & Unterstützung

Ein paar Tage später dann der Schock. Die Tanzschule geschlossen, alles untersagt, de facto ein Berufsverbot! Viele Fragen, Sorgen, Nöte und keine Ahnung, was da auf uns zukommt. Soforthilfe und Hartz IV beantragen, Verordnungs-Wirrwarr sichten, Miete nicht zahlen können einerseits - eine unglaubliche Solidarität, Fürsorge und Spendenbereitschaft in der Tangoszene und unter den SchülerInnen andererseits. Ohne Euch wäre es nicht gegangen! DANKE! Ihr seid großartig!


Zusammenhalt bilden

Die Krise machte deutlich, daß eine gemeinsame Vertretung der Tangoszene in Deutschland fehlt. Es gab keinen bundesweiten Verband, der auf unsere Situation aufmerksam machen konnte. Und bald war klar, daß man „trommeln“ mußte, um wahrgenommen zu werden. Es kam zu ersten Gesprächen mit Gleichgesinnten im Rahmen des Tango Community Netzwerkes. Und es war schön, sich mit den Stuttgarter TangolehrerInnen einmal wöchentlich im Zoom-Meeting auszutauschen. Das hatte es vorher nicht gegeben. So hatte Corona neben all der Trennung wenigstens auch ein verbindendes Element.


Öffentlichkeitsarbeit – wir müssen den Tango retten!


Ein Höhepunkt im Juni 2020 war das gemeinsame Tanzen auf dem Stuttgarter Marktplatz bei der Übergabe der Tango-Petition. So viele waren gekommen, um – fein abgetrennt in Vierecken – zu zeigen, daß auch der Tango ein Lebensrecht hat. Das Herz ging mir auf, als die ersten Töne erklangen und der ganze Platz tanzte! Trotz des Abstands war es ein erstes Zusammentreffen der Tangoszene und man konnte wahrnehmen, wie gut es tat, sich nach Wochen und Monaten wieder zu sehen und auch ein paar Worte zu wechseln. (Den Link zu einem kurzen Video der Aktion findet Ihr unten.)


Unterricht: ja, aber


Ab Juni dann die Möglichkeit, wieder zu unterrichten – aber in welcher Form! Beim Durchlesen der ersten Bestimmungen die pure Verzweiflung. Das kann doch so nicht wahr sein!

Es wurde mit der Zeit besser, jedoch ließ sich nicht verbergen, daß der Tango mit all den Beschränkungen nicht das war, was wir liebten. Der erste Anfängerkurs mit Schülerinnen und Schülern, die auch nach Wochen noch nicht ein einziges Mal den Tanzpartner gewechselt hatten, die den Unterrichtsraum über die Fluchttreppe verlassen mußten, um ja niemandem zu begegnen, und denen wir von Milongas nur erzählen konnten. Es kam mir vor wie eine Lüge. Das Herz des Tangos ist die Begegnung und diese läßt sich nicht „wegmachen“, ohne die Essenz des Tangos zu verlieren. Aber das war noch nicht das Schlimmste.


Tango Argentino im Lalotango und im CIELO in Stuttgart
Verzweifelte Tango-Lehrerin – ist es bald vorbei? (Foto: Gerald Ulmann)

Der Himmel wankt – die Kündigung


Das CIELO, mein Tango-Himmel, den ich fünf Jahre lang mit aller Liebe und verdammt viel Einsatz aufgebaut habe zu einem lebendigen, facettenreichen Ort, er wird gekündigt. Nein, Corona ist kein Ereignis am Rande, es beendet Lebenslinien und Visionen und begräbt reale Orte. Es wird nicht mehr sein wie vorher, denn etwas Entscheidendes wird fehlen: der Unterrichtsraum, die Milonga-Tanzfläche, der Treffpunkt auch für andere Tanzstile. Gab es doch so ein schönes Miteinander von Tango, Contact Improvisation, Salsa, Butoh und Singen; von Kursen und Festen, von Workshops und Einzelstunden. Aber bald eben nicht mehr. Traurigkeit macht sich breit. Und ein Gefühl der Sinnlosigkeit. Vor ein paar Monaten war doch noch alles gut…


Auf der Suche

Während andere mit dem x-ten Aufräumdurchlauf ihrer Wohnung beschäftigt sind, mache ich mich auf die Suche nach neuen Räumen. Das CIELO soll nicht sterben. Es hatte gerade begonnen zu fliegen! Der Druck ist groß, die Zeit läuft. Ich durchforste hunderte Immobilienanzeigen und pflüge durch die ganze Stadt. Endlich habe ich Glück, kann einen neuen Raum gewinnen, unterschreibe den Mietvertrag. Die Gürtelrose, die ich gleich danach bekomme, zeigt mir, wie existenziell die Situation ist und wie sehr es auf Körper und Psyche schlägt.

Die Erleichterung darf nicht lange anhalten. Noch bevor ich die neuen Räume beziehen kann - aber erst nachdem ich schon einen Großteil der notwendigen Einrichtung gekauft habe -, bekomme ich auch dort die Kündigung! Der Vermieter verliert selbst coronabedingt einen Teil seiner Räume und muß ebenfalls umziehen. Wieder nichts. Das CIELO steht auf der Straße.


Nebenbei

Weil ich in all dem Streß meinen Hartz IV-Folgeantrag nicht rechtzeitig vervollständige, erfahre ich, daß ich keine Unterstützungsleistung mehr bekomme. Das heißt: ich habe eine offizielle Betriebsschließung, aber private Miete, Krankenkasse etc. muß ich trotzdem aus eigener Kasse bezahlen. Wie war das mit „Wir helfen, daß Sie das durchstehen können“? (Ach ja, das Geld des Jobcenters für die ersten sechs Corona-Monate hat das Finanzamt gepfändet. Für Steuern. Wer braucht denn schon Essen?!?)


Gentrifizierung – der Tango verläßt die Innenstädte

Es wird klar, daß der Tango ein grundsätzliches Problem in den Metropolen hat. Die Quadratmeterpreise - in meinem Fall in der Innenstadt von Stuttgart - sind ins Unbezahlbare gestiegen. Bei Kündigung oder Auslaufen eines Mietvertrags gibt es kaum eine Möglichkeit, Ersatzräume zu finden. Die vorherrschenden Mieten sind mit Tango nicht finanzierbar und dann möchte natürlich auch niemand so ein musikverbreitendes Ungeheuer wie eine Tanzschule im Haus haben, ganz zu schweigen vom Publikumsverkehr… („Daß da mehr als zehn Leute am Tag durchs Treppenhaus laufen, das will ich auf gar keinen Fall!“) Was also tun?


Flucht in die Natur – Tanzen im Grünen


Meine persönliche Corona-Lektion: raus aus der Abhängigkeit! Was nützt es, über Jahre hinweg einen Tango-Ort aufzubauen, der einem wieder genommen werden kann, ohne daß Alternativen verfügbar sind? Wenn ich mir den Betrag anschaue, den ich in den letzten Jahren an Miete bezahlt und quasi „in den Wind geschossen habe“, spüre ich Wut: Das mache ich nicht noch mal!

Der Entschluss in mir wächst. Ich möchte etwas kaufen. Etwas, was dann mir gehört. Ich möchte sowieso mehr ins Grüne und nur dort findet sich wirklich Platz. Warum nicht die Hälfte der Woche abseits der Stadt verbringen und ein kleines Seminarhaus aufbauen? Mit Tanzsaal natürlich! Es klingt wie ein Traum, und die Bank lächelt nett, als ich - derzeit arbeitslose, verschuldete, selbständige Tangolehrerin in Corona-Zeiten (!!!) - nach einem Kredit frage. Nun gut, dann eben ein Privatdarlehen. Irgendwie muß es gehen. Das Objekt ist schon gefunden ☺


Ich brauche mehr als Tango: Satire & Kunst


Noch etwas Positives geht auf das Konto von Corona: mein künstlerischer Selbstausdruck blüht auf. All der Irrsinn, den ich im letzten Jahr erlebt habe, braucht ein Ventil. Irgendwann ist mir der Kragen geplatzt. Ich fange an, kleine Videos zu drehen. Die meisten zensiere ich. Ist die Situation doch sehr zugespitzt und auch die Tangoszene in zwei Lager gespalten. Aber das eine oder andere spontane Video, mancher Text, ein bißchen Satire geht nach draußen. Und ich merke, es macht mir Spaß! Ich könnte jede Woche eine neue Idee umsetzen, sehe Szenen vor meinem inneren Auge, muß dabei lachen, so schräg ist alles. Und da ist sie wieder – die Begeisterung!


Links:


Das Lalotango und das Cielo in Stuttgart / Tango Argentino.
Schöne Aussichten! (Foto: Carlos Coelho)

Fotos:

- Blick ins CIELO / Promo - Corona-Dada / Foto: Gerald Ulmann - Tango der Zukunft / Foto: Carlos Coelho

2 Kommentare

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2 Comments

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susanne
Feb 14, 2021

Liebe Liane, Dein Beitrag hat mich sehr berührt. Wir erleben die Gentrifizierung gerade auf privater Ebene, durch eine Eigenbdarfskündigung unserer Wohnung. Eine vergleichbare Wohnung kostet jetzt mindestens 200 € mehr. Und dabei dachte ich immer, in Kassel ist alles noch entspannt im Vergleich zu den Metropolen. Stuttgart - dort bin ich aufgewachsen - ist ja schon seit langem ein verdammt teures Pflaster. Es macht mich immer wütender, dass die Politik das Wohnen dem freien Markt überläßt. Dasselbe gilt für die Mieten kleiner Gewerbetreibender. Wann ist das Ende der Fahnenstange erreicht ? Ich wünsche Dir ganz viel Glück bei Deinem Zukunftstprojekt. Wir suchen auch immer wieder schöne Seminarhäuser für Wochenendseminare. Da jetzt das Fliegen auch eher out ist....Laß von Dir hören

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info.zep
Feb 14, 2021

Wow, wie berührend... ich konnte von Anfang bis Ende mitgehen. Deine Bewegtheit und (Selbst)Sorge ermuntern mich, meiner Eigenverantwort treu zu bleiben ohne mich von meinem Umfeld zu entkoppeln. Danke für diesen Einblick.

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